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Konzerthaus Berlin am Gendarmenmarkt. Hier hat der Dirigent der Sommertournee, Lothar Zagrosek, sein Büro. Im 3. Stock trifft er auf den jungen Komponisten Robin de Raaff. Beide verbindet die Leidenschaft für Neue Musik. Lothar Zagrosek eilt direkt von der Jurysitzung für den deutschen Dirigentenpreis herbei, und Robin de Raaff findet kurz Zeit, seine Arbeit an der Auftragskomposition Untangled Tales, die im Sommer von der Jungen Deutschen Philharmonie uraufgeführt wird, zu unterbrechen. „Nenn mich Lothar“, beginnt Zagrosek die Vorstellungsrunde.

Lothar Zagrosek: Robin, mich würde interessieren, wie es um die Neue Musik in den Niederlanden steht. Wir hören in Deutschland, dass die neue Regierung starke Kürzungen im Kulturbereich vornimmt, und meiner Erfahrung nach betrifft es leider meistens zuerst die zeitgenössische Kultur. Wie müssen wir uns die aktuelle Situation in der niederländischen Musikszene vorstellen?

—— Robin de Raaff: Es herrscht große Unsicherheit. Die Regierung hat die kulturellen Förderungen teilweise um bis zu 40 Prozent gekürzt. Für Institutionen wie das Rundfunkorchester, die Rundfunk Kammerphilharmonie, das Metropol Orchester und den Großen Rundfunkchor sollten die Förderungen sogar komplett gestrichen werden. Nur mit massiven Protesten aus der nationalen wie internationalen Musikszene konnte das verhindert werden. Ob diese Klangkörper tatsächlich überleben, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig unklar. Natürlich ist auch die zeitgenössische Musikszene nicht verschont geblieben.

——    Lothar Zagrosek: Für mich sind Kürzungen in dieser Größenordnung in Deutschland nicht vorstellbar. Hier bei uns erfährt die Neue Musik viel Unterstützung. Das Publikum ist zwar ge- spalten, wenn es um zeitgenössische Musik geht, aber niemand bezweifelt, dass sie Teil unserer Kultur ist. Man sieht das an den zahlreichen Festivals für Neue Musik und international erfolgreichen Ensembles wie dem Ensemble Modern oder der musikFabrik. Wahrscheinlich resultiert das hohe Maß an Zustimmung aber auch aus der langen Musiktradition des deutschsprachigen Raums.

Herr Zagrosek, ist Geld für Sie ein Thema, wenn Sie Ihre Programme entwerfen?

 —— Lothar Zagrosek: Nein. Ich habe in erster Linie Verantwortung für die Gesellschaft, das Publikum, die Musiker und die Komponisten. Das Budget ist da zweitrangig. Aus diesem Grund spielt Neue Musik auch immer eine Rolle in meinen Programmen.

Ihrer Erfahrung nach: Wie ist es für ein Publikum, etwas Neues, bisher Unbekanntes zu hören? Wie sind die Reaktionen?

 ——    Lothar Zagrosek: Die Zuhörer sind sehr gelassen, vielleicht sogar zu gelassen. Ich kann mich erinnern, dass damals, als ich noch Student war, in Donaueschingen ein Werk von Helmut Lachenmann zwei Mal unterbrochen wurde. Das Publikum war so aufgebracht und laut, dass der Dirigent abbrechen und neu einsetzen musste. Diese Art der Auseinandersetzung zeugte allerdings von einem hohen Interesse an der Musik.

—— Robin de Raaff: Auch zu meinen Studentenzeiten habe ich noch erlebt, dass das Publikum überrascht reagierte, zum Beispiel bei Kompositionen von Louis Andriessen. Damals war Schockieren ein großes Thema, das Publikum war kritisch und buhte, aber das ist mehr als zehn Jahre her.

—— Lothar Zagrosek: Ich weiß nicht genau, was die Gründe dafür sind, dass sich das Publikumsverhalten so sehr verändert hat. Sind die Zuhörer heutzutage nur einfacher zufrieden zustellen, weil sie weniger anspruchsvoll sind, oder haben sie möglicherweise ein besseres Musikverständnis und sind offener für neue Hörgewohnheiten? Ich habe das Gefühl, das Publikum akzeptiert die Neue Musik nicht nur, sondern ist interessiert an der Entwicklung der zeitgenössischen Musik.

Inwiefern sollte man sich als Zuhörer vorab über ein Werk informieren, welches man noch nie gehört hat?

—— Lothar Zagrosek: Das ist immer die große Frage. Im Grunde kann man Musik nicht verbal erklären. Wenn man das könnte, bräuchte man sie ja nicht. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, während des Konzerts kleine Anmerkungen zu machen. So schafft man eine gute Grundlage für ein besseres Zuhören, eine größere Hörbereitschaft.

Herr de Raaff, wenn Sie bei der Uraufführung eines Ihrer Werke die ersten Reaktionen sehen, wie erleben Sie das?

—— Robin de Raaff: Man weiß nie, ob ein Stück überhaupt funktioniert, bis man die ersten Reaktionen erlebt hat, und selbst dann kann man sich nicht sicher sein, da ein Stück durch das jeweilige Orchester unterschiedlichste Wirkungen entfaltet. Für mich als Komponist ist es daher sehr wichtig, mein Stück von mehreren Orchestern zu hören, bevor ich es endgültig beurteile.

—— Lothar Zagrosek: Die ersten Reaktionen sind immer interessant. Außerdem ist man natürlich neugierig, ob es dem Publikum gefällt. Ich glaube, es war Arnold Schönberg, der einmal gesagt hat: „Musik ist nicht für Musiker gemacht, sondern für die Allgemeinheit.“ Ich finde, damit hat er sehr Recht, und ob die Musik wirklich für die Zuhörer gemacht ist, findet man eben erst im Konzertsaal heraus.

Herr Zagrosek, Sie haben es schon oft erlebt, eine druckfrische Komposition in den Händen zu halten und diese ein erstes Mal aufzuschla- gen. Wie fühlt sich das an?

—— Lothar Zagrosek: Das ist ein Moment größter Neugierde. Ein neues Werk hilft mir immer, unsere Zeit besser zu verstehen. Es zeigt mir, wo wir kulturell angekommen sind, aber auch, wie weit Traditionen zurückreichen und wie ein neues Werk nach der Zukunft greift.

Macht es einen Unterschied, ob man für ein junges Orchester komponiert? Wie ist es, als Dirigent mit Musikern zu arbeiten, die noch am Anfang ihrer Profilaufbahn stehen?

—— Robin de Raaff: Für meine Kompositionen macht das keinen Unterschied. Ich gehe, egal für wen ich komponiere, gleich mit dem Auftrag um. —— Lothar Zagrosek: Bei der direkten Arbeit mit dem Orchester macht das schon einen Unterschied. Die jungen Musiker haben im positiven Sinne noch nicht viel Erfahrungen, sind offener gegenüber den Werken als ihre älteren Kollegen. Die Jungen spielen ein Stück so, wie es in der Partitur steht.

—— Robin de Raaff: Ich weiß genau, was Du meinst, und das ist bei Neuer Musik besonders wichtig, da der Komponist oft sehr genaue Vorgaben macht, wie etwas zu spielen ist.

—— Lothar Zagrosek: Ich lese auch immer wieder in den Kritiken zu den Konzerten der Jungen Deutschen Philharmonie, dass man spürt, wie sehr die jungen Musiker hinter den Stücken stehen. Das merkt natürlich das gesamte Publikum.

Herr de Raaff, verraten Sie uns schon etwas zu der Komposition, die uns erwartet? Es ist ja der zweite Teil Ihrer Komposition Entangled Tales aus dem Jahr 2007.

—— Robin de Raaff: Beide Titel gehen zurück auf das Tanglewood Festival of Contemporary Music, wo dank George Benjamin im Jahr 2001 mein Stück Piano Concerto uraufgeführt wurde. Das Flair dieses Festivals hat mich inspiriert, zunächst Entangled Tales und nun Untangled Tales zu komponieren. Ersteres ist sehr fröhlich und rhythmisch, mit hellen Klängen. Im Gegensatz dazu ist Untangled Tales ein eher ruhiges, atmosphärisches Werk.

Wir sind schon gespannt, wie es klingen wird. Ich danke Ihnen beiden für das Gespräch!

*** Interview: Madeleine Landlinger,
Übersetzung und Redaktion Janina Schmid

Lothar Zagrosek, geboren 1942, ist zurzeit Chefdirigent und stellvertretender Intendant des Konzerthauses Berlin. Zuvor war er General- musikdirektor an der Württembergischen Staatsoper in Stuttgart. Seit 1995 ist Lothar Zagrosek erster Gastdirigent und künstlerischer Berater der Jungen Deutschen Philharmonie. Auf allen seinen Stationen begleitete ihn stets die Neue Musik, für die er sich bis heute einsetzt.

Robin de Raaff, geboren 1968, studierte zunächst Komposition in Amsterdam, bevor er 1999 der einzige Schüler George Benjamins wur- de. Seit 2001 lehrt Robin de Raaff als Dozent für Komposition und Instrumentation am Musik- konservatorium in Rotterdam. Zu seinen bisherigen Werken zählen Tête-à-tête, Entangled Tales, Piano Concerto und Violin concerto.

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