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Meine persönliche Geschichte mit Bruckner begann, als ich mit 13 Jahren im Dom von Worcester die 7. Sinfonie gehört habe. Ich war bis kurz davor Sängerknabe an dem Gotteshaus und empfand das Konzert als unglaublich lang, habe es zugegebenermaßen nicht sonderlich genossen. Später, als ich Bruckner zum ersten Mal dirigierte, war das ebenfalls die Siebte, bevor ich mich mit der Neunten und der Achten beschäftigte. Ich war mir damals über meine Aufgabe als Dirigent dieser Musik unsicher. Konfrontiert mit dem Bild von Bruckner als katholischem Mystiker fragte ich mich, ob ich einfach als Re-Konstrukteur die „Bausteine“ dieser Sinfonien in einer stimmigen Architektur zusammenzusetzen habe. Oder ob innerhalb dieser Elemente auch meine persönlichen Fragen, meine Empfindungen, meine Hoffnungen und Ängste, mein Glaube Platz haben könnten. In der Auseinandersetzung mit der großen Bruckner-Tradition der Bamberger Symphoniker habe ich mich in den Jahren danach von dem Ansatz gelöst, man hätte es in dieser Musik ausschließlich mit Transzendentem zu tun. Beim Studium der frühen Sinfonien, die mich mit ihrer kühnen, modernen, ja eigentlich krassen Strukturen von Beginn an fesselten, stieß ich zudem auf eine Erzählung Bruckners zum letzten Satz seiner 3. Sinfonie: Er schildert, wie er durch Wien und an einem Haus vorbeigeht, in dessen einem Stockwerk er ein rauschendes Fest beobachtet und in der Etage darunter einen Toten liegen sieht. Und er schreibt in der ersten Fassung der Sinfonie explizit und gleichzeitig „Choral“ und „Polka“, verbindet also das Spirituelle und das Weltliche miteinander. Heute verstehe ich meine Aufgabe so, dass ich einen Weg finden muss, diese beiden Elemente in Balance miteinander zu verbinden. Ein Spagat, der eine große Herausforderung ist und uns übrigens zu den Werken Gustav Mahlers führt, dessen 9. Sinfonie die Junge Deutsche Philharmonie und ich vor zwei Jahren gemeinsam erarbeitet haben. Beide Komponisten, so unterschiedlich sie sind, wollen die Welt in ihren Sinfonien komponieren, sehen Gott im Menschen und den Menschen in Gott. Damit sind sie sich in ihren Aussagen sehr nah, auch wenn man als Interpret ganz anders an eine Sinfonie von Bruckner als an eine von Mahler herangehen muss.
 
Bruckners Sinfonien leben von einer unerbittlichen Spannungskraft, von der ersten Note über diese endlos lang gezogenen und fein gegliederten Bögen bis hin zum Ende der Sinfonie. Das ist sehr, sehr schwierig umzusetzen. Um es zu schaffen, braucht man einerseits einen Erzählfaden und andrerseits eine große Sensibilität für Zeit, mit der man diese extrem geführten Phrasen kontrolliert. Als Dirigent forme und gestalte ich diese Töne in der Zeit, schmiede daraus Klanggebilde und setze sie in den Raum. Damit meine ich die Steuerung der Klangdichte, der Polyphonie und deren Durchsichtigkeit, der dreidimensionalen Elemente innerhalb des Orchesters. Wie sind die Themen gegliedert, wie fern oder nah sind die Nebenlinien der zweiten, dritten und vierten Ebene hervorzuholen? Gerade bei Bruckner ist man gezwungen, die Elemente der Musik und des Musikmachens wie unter dem Mikroskop zu untersuchen. Mit ihren Orgelpunkten, Orgelregistrationen und Wiederholungen hat sie etwas sehr blockartiges. Der „Zement“ – also die Zeit zwischen diesen Blöcken – darf aber nicht immer gleich dicht sein, denn sonst geht die Plastizität verloren und es wird langweilig. Wenn ich beispielweise vier und nochmals vier Takte habe, und dann kommt plötzlich ein Block von zwei Takten, dann kann ich den Zwischenraum verkleinern. Ich ziehe also die zweitaktige Phrase leicht vor, rücke sie an das Vorangegangene heran. So bekommt man diese pulsierende, schwebende, sich ständig wie ein lebendiges menschliches Organ bewegende Idee von Zeit, die gleichzeitig eine Linie ergibt.

Die einzelnen Instrumente haben in Bruckners 9. Sinfonie fast ausnahmslos sehr viel zu spielen. Oftmals sind sie Teil einer Masse, innerhalb derer aber gleichzeitig jedes Individuum eine unglaublich wichtige Rolle einzunehmen hat. Wenn man Bruckner spielt, bekommt man das Gefühl eines echten Kollektivs der Musiker – geistig wie musizierend. Die Kontrolle von Zeit, das Wechselspiel von Zeit, Akustik und Nachhall, die Verantwortung des Individuums für den Gesamtklang – alles, was Bruckners Musik fordert, um Stein auf Stein diesen gewaltigen Dom aufzubauen, ist auch ein wunderbares Training für die Interpretation aller anderer Musik. 

Weitere Informationen zum Programm der Herbsttournee 2015 SINNSUCHE

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