David Afkham steht am Dirigentenpult und fasst sich demonstrativ an den eigenen Hinterkopf, als sei er selbst das nächste Opfer. Vor ihm sitzt das Orchester in der ersten Tuttiprobe und schaut und hört genau zu, wenn er dieses starke Bild entfaltet.

 

In diesem Moment brauchen wir jungen Musikerinnen und Musiker eine Orientierung durch den erfahrenen Maestro, ist die Symphonie fantastique – das Werk, das gerade aufgeschlagen ist – ja ein weltbekanntes Stück und birgt dennoch so viel Potenzial, zu entgleisen und in Kitsch zu verfallen. Mit einfachen und doch bestimmten Gesten schafft Afkham es, uns das Diabolische einzuhauchen, welches uns durch die nächsten Wochen führen wird.
Zu diesem Zeitpunkt ist der erste Teil der Frühjahrsarbeitsphase mit Register-, Gesamt- und Vor-Tuttiproben gerade in den zweiten übergegangen. Bei bester Unterbringung und Bewirtung in der Landesmusikakademie Ochsenhausen haben wir gut einhundert Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie uns in allen vorstellbaren Untergruppen technisch vorbereitet, um nun eine gemeinsame Klangvorstellung zu entwickeln. Bis zur öffentlichen Generalprobe verbleibt dafür nur noch eine knappe Woche, und entsprechend konzentriert ist die Stimmung im Probensaal. Viele musizieren zum ersten Mal miteinander. Für David Afkham, der bereits zum zweiten Mal am Pult der Jungen Deutschen Philharmonie steht, ist dies aber eine lösbare Aufgabe.
 
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WAHN UND WIRKLICHKEIT: So ist das Programm der diesjährigen Frühjahrsarbeitsphase übertitelt, und es versucht, Abgründe und Gründe menschlicher Existenz zu beleuchten. Die drei Werke Les Offrandes Oubliées von Olivier Messiaen, Tout un monde lointain von Henri Dutilleux und die Symphonie fantastique von Hector Berlioz spannen dabei einen musikalischen und inhaltlichen Bogen. Die Pietät des ersten Werkes begegnet mondäner Leidenschaft im Cellokonzert, und das Programm wagt eine Verschmelzung beider in der Sinfonie, welche selbst einen jungen Komponisten portraitiert. Alle Werke haben ihre eigene Couleur, passen in ihrer Dynamik aber genau ineinander: Was samtweich und depressiv beginnt, wird in einer wahnwitzigen Raserei enden. Diesen Bogen bis zum Publikum zu spannen, hilft uns David Afkham mit ausdrucksstarkem Dirigat, aber auch mit einer Kommunikation auf Augenhöhe, die stets Raum zum Experimentieren und Finden der nötigen Zwischentöne gibt. Wörter wie „parfümiert“ oder Ausdrücke wie „con gas“ weisen uns dabei die Richtung, wenn wir beispielsweise versuchen, die Stimmung eines letztlich liebeskranken Walzers aufzuspüren.
 
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Drei Tage später stößt der Solist Steven Isserlis zu uns. Als er zum ersten Mal das Wort ergreift, verklingt gerade noch sein espressiver Celloton im Raum, und er ruft uns zu: „Extatique!“. Bis zur Generalprobe wird er uns immer wieder animieren, das Äußerste zu wagen und niemals gleichgültig zu spielen. Dabei wandelt er sein Spiel vom brodelnden Vulkan zu einem Träumen in „einer ganz entfernten Welt“ und erfüllt so ganz den Titel des Meisterwerkes von Dutilleux, welches die Gedichtsammlung „Les Fleurs du mal“ des Dichters Charles Baudelaire musikalisch aufgreift. Mit der Zeit schaffen wir es immer besser, den Enthusiasmus von unserem Cellosolisten Steven Isserlis zu beantworten und die zahlreichen rhythmischen Klippen eher als willkommene Herausforderung zu begreifen. Im dritten Satz Houles („Seegang, Wellen“) wagen wir uns dann mit Steven Isserlis auf das offene Meer und beschreiben gemeinsam die gefährlich auf- und abwogenden Locken einer Geliebten: französische Romantik …
Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser des Taktgebers, schon einmal versucht, Ihre Stimme oder ein Instrument malvenfarbig zu benutzen? Zugegeben, für uns Musiker der Frühjahrsarbeitsphase war das zunächst auch Neuland, aber mittlerweile ist es für uns eine absolute Selbstverständlichkeit! Der Synästhesist Messiaen, welcher Töne als Farben wahrnahm und umgekehrt, gibt in seiner Partitur den Musikern nämlich gerne solche Aufgaben, und tatsächlich bekommt man eine Idee, was er meinen könnte, je länger man an seinen „Vergessenen Opfergaben“ arbeitet. Bei dieser sinfonischen Meditation, die „Kreuz, Sünde und Eucharistie“ vertont, bedient er sich nämlich ganz ausgefallener Instrumentierungen und Akkorde, die ihn damals (1930) schnell berühmt machten.

Nach einer für unsere Verhältnisse eher moderaten Mitgliederversammlung, einem Projekttag zu den Themen Mentaltraining und Musikerphysiologie und unserer großen Orchesterparty nähert sich auch die Zeit in Ochsenhausen ihrem Ende. Die mit kräftigem Applaus belohnte öffentliche Generalprobe ist zugleich Auftakt zur neuntägigen Tournee ins In- und Ausland: Zuerst reisen wir in die musikalisch außergewöhnliche Stadt Cremona und kommen in den Genuss, das dortige Stradivari-Museum und auch moderne Werkstätten zu besuchen. Das Teatro Ponchielli, der Konzertort, ist allein architektonisch schon beeindruckend und versetzt uns den letzten Kick, am Abend auch alles zu geben: Das Konzert wird entsprechend ein voller Erfolg. Und schon am nächsten Tag geht es weiter nach Perugia mit seiner atemberaubend und fast gespenstisch schönen Altstadt.
Von Italien fliegen wir nach Berlin, wo sich für viele von uns der Traum erfüllt, einmal in der Philharmonie zu spielen. Auch wenn wir seit einiger Zeit dort jährlich gastieren dürfen, bleibt es immer etwas Besonderes. Zum einen ist es die exzellente Akustik und die gestufte Bühne, die das gemeinsame Musizieren intensivieren, aber es ist natürlich auch einfach das Flair der Stadt und die sprichwörtliche „Berliner Luft“. Auffallend ist das recht junge Publikum im gut besuchten Saal. Dieser Jugendfaktor wird wenig später in Heidelberg vielleicht sogar noch übertroffen, wo Schülerinnen und Schüler die Anspielprobe und anschließend das Konzert besuchen. Als vielleicht jüngstes Orchester, welches im Rahmen des Heidelberger Frühlings auftritt, bekommen wir aber auch umgekehrt eine besondere Sympathie des Publikums zu spüren und werden mit langanhaltendem Applaus bedacht. Education-Arbeit ist deswegen so schön, weil beide Seiten profitieren!

Auch wenn die Größe unserer Besetzung und die Tourneeabfolge dies notwendig machen, ist es ein großer Komfort, mit Charterflügen zu reisen. Denn mittlerweile ist es schon der dritte Flug von insgesamt sechs, der uns von Stuttgart nach Ljubljana bringt. Aber dieser ist am spektakulärsten, da man einen imposanten Blick auf die Alpen hat und vor der Landung einige Bergketten sehr nahe umfliegt. Da wir einen freien Abend und Vormittag zur Verfügung haben, bietet sich uns die Möglichkeit, Slowenien als unglaublich facettenreiches Land kennenzulernen, bevor wir in der Konzerthalle Cankarjev Dom auftreten. Als nächster und letzter Stopp der Tour sind wir zu Gast beim Warschauer Beethoven-Fest in der dortigen Philharmonie. Zwei Tage sind natürlich viel zu wenig, um die polnische Hauptstadt gut kennenzulernen, welche ihrem Besucher so unbeschreiblich viel bietet, aber uns wird hier eine ganz besondere Gastfreundschaft entgegengebracht, die wir sicherlich nie vergessen werden. Auch musikalisch bildet das Konzert in Warschau einen Höhepunkt der Tournee: Es klingt mit Standing Ovations durch ein begeistertes Publikum aus. 
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