Wenn ein Publikum Engel musizieren hört, die Alte Oper Frankfurt sich mit Konfetti füllt und ein Orchester das Gedicht der Ekstase spielt, dann ist das keineswegs ein surrealer Traum, sondern das 1822-Neujahrskonzert der Jungen Deutschen Philharmonie am 13. Januar 2019.

WilsonNg(c) Alte Oper Frankfurt / Achim Reissner

Acht Tage zuvor begann unsere Neujahrsarbeitsphase in Prüm, einem kleinen Örtchen im Herzen der Eifel. Auf dem Programm standen Mathis der Maler von Paul Hindemith, Le Poème de l’Extase von Alexander Skrjabin und Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgski (orchestriert von Maurice Ravel). Ein buntes Programm, für das ein Orchester mit knapp 100 Musizierenden verlangt wird. Von acht Hörnern über zwei Harfen bis hin zu Celesta und klassischem Saxophon – die Komponisten hatten an einer wunderbar großen Farbpalette nicht  gespart. Und passend dazu die Überschrift des Projekts: FARBRAUSCH. Denn wie zwei der drei Titel des Programms schon verraten, hat diese programmatische Zusammenstellung viel mit Farben, Klangfarben und dem Spielen ebenjener zu tun. Aber was bedeutet eigentlich Klangfarbe? Und was hat Farbe in der Musik zu suchen?

Bei Musikerinnen und Musikern wird das Wort „Klangfarbe“ oft verwendet, wenn es um den Ausdruck und die Gestaltung des Tons geht. Aber bei dem Konzertprogramm handelt es sich nicht nur um Klangfarben, sondern hier wurde bewusst auf farbige Töne angespielt. So zumindest bei Skrjabin, dem russischen Pianisten und Komponisten, der ein Synästhet war. Synästhesie? Töne, die Farben haben?
Synästheten sind Menschen, bei denen zwei Bereiche im Gehirn miteinander verknüpft sind, die es sonst nicht sind. So erhalten Buchstaben, Zahlen, Geräusche und Klänge bestimmte Formen, Farben und verschiedene Intensitäten. Bei Synästheten kann das in ganz unterschiedlichen Kombinationen auftreten. Skrjabin hat beim Hören von Musik Farben gesehen. Das bedeutet natürlich, dass durch eine solche Art zu hören auch ganz eigene Arten von Kompositionen entstehen können. Man findet auch im Poème de l’Extase extreme Klangwelten, die miteinander interagieren: ein Rausch, der fließen kann, der schweben, stolpern, rasen und fliegen kann. Der den Zuschauer überwältigt und in Welten mitnimmt, denen man eigentlich nur im Traum begegnen kann.

Auch Ravel war ein Künstler des Ausbalancierens von Klängen. Er nahm die Bilder einer Ausstellung von Mussorgski, der diese Stückfolge im Original für zwei Klaviere geschrieben hatte, und arrangierte sie für Orchester. Hier kommt sogar ein Saxophon vor, das sonst keinen festen Platz im Orchester hat. So gelingt es Ravel, dass man auch hier in eine Welt eintaucht, eine Kunstausstellung erlebt, bei der jedes Werk aufs Neue überrascht und verzaubert. Auch wenn das Publikum die originalen Gemälde von Viktor Hartmann nicht vor Augen hat, bekommt es bei Bilder einer Ausstellung eine fantasiereiche Komposition zu hören, die ihm ganz eigene Bilder und Gemälde vor das innere Auge malt.
Von der bildenden Kunst ließ sich auch Hindemith für seine Sinfonie Mathis der Maler inspirieren. Mathis der Maler ist Matthias Grünewald, der die Renaissancebilder des Isenheimer Altars in Colmar gemalt hat – Bilder, die auch Einzug in Thomas Manns Tagebuch erhielten: „Starker Eindruck.“ Ein Engelkonzert gibt eine Art Ouvertüre der insgesamt  dreisätzigen Sinfonie. Darauf folgten die Grablegung Christi und der wuchtige Satz über Die Versuchung des Heiligen Antonius.

Die Aufgabe der Jungen Deutschen Philharmonie war es, mit dem Dirigenten Wilson Ng in einer Woche diese Facetten, Hintergründe und Welten zu ergründen, in sich aufzunehmen und sie transportieren zu  lernen. Neben technisch hohen Ansprüchen war das Konzertprogramm in seiner Wuchtigkeit von einer besonderen Dimension. Ng, ein junger aufstrebender Dirigent, leistete mit uns eine besondere Zusammenarbeit. Sein Dirigat war makellos, das Arbeiten auf Augenhöhe zwischen Dirigenten und Orchester gab uns ein Gefühl von Kammermusik, es war eine tolle Arbeitsatmosphäre.

Workout Kopie

Eine Arbeitsphase besteht aber nicht nur aus Proben und Konzert. Jedes Projekt beinhaltet auch einen Projekttag, der neben der Musik unterschiedliche Anstöße geben kann. Dieses Mal ging es um das Thema Steuerrecht für Musikerinnen und Musiker und einen Workshop zur Alexandertechnik für das ganze Orchester inklusive Einzelstunden. So bekamen wir Musikerinnen oder Musiker neben dem intensiven Proben auch eine Ablenkung und Zerstreuung mit interessanten Erfahrungen.

Bevor ich aber natürlich noch das Konfetti erklären muss, möchte ich an dieser Stelle über eine Woche schreiben, die Lust gemacht hat auf mehr: auf mehr Junge Deutsche Philharmonie, auf mehr Musik, mehr Zusammenhalt, mehr Ausgelassenheit am Abend und auf eine tolle Gruppendynamik innerhalb des Orchesters. Die Neujahrsarbeitsphase 2019 war eine großartige Woche voller schöner Momente bei und neben dem Musizieren.

1822Konzert c AOF AchimReissner

(c) Alte Oper Frankfurt / Achim Reissner

Leider gab es nach der Probenwoche „nur“ ein einziges Konzert – aber  das hatte es in sich: Eine volle Alte Oper (über 2.400 Zuschauerinnen und Zuschauer), Standing Ovations und ein Banner mit den Worten „Willkommen im neuen Jahr“ und eben Konfettikanonen, beides am Ende der zweiten von drei (!) Zugaben abgefeuert und entrollt. Und dazu ein Konzertprogramm voller leuchtender Farben, voller wunderbarer Formen, voller geballter Intensität – gespielt von der Jungen Deutschen Philharmonie.

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Johanna Hempen
Violine

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