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Jonathan Nott, Erster Dirigent und Künstlerischer Berater der Jungen Deutschen Philharmonie, im Gespräch mit Heidrun Eberl.

Bei der Frühjahrstournee steht mit Ligeti, Dvořák, Borboudakis und Schumann ein vielseitiges und ungewöhnliches Programm auf dem Plan. Wie kam es zu der Zusammenstellung?

Die Zusammenstellung des Konzertprogramms ist als Antwort auf unsere selbstgestellte Aufgabe zu verstehen. Diese besteht darin, dass wir eine Beziehung zur Musik unserer Zeit kultivieren, gleichzeitig aber all die wunderschönen Stücke aus dem großen Schatz der Musik der letzten dreihundert Jahre nicht ausschließen wollen. Sehr interessant finde ich Z metamorphosis von Minas Borboudakis. Von diesem Komponisten hatte ich vorher noch nie etwas gehört – da bin ich dankbar, dass der Programmausschuss der Jungen Deutschen Philharmonie das Werk mit in Auftrag gegeben hat. Die ungewöhnliche Konzertreihenfolge, mit der Dvořák-Sinfonie in der ersten Hälfte, ist zwar zunächst aus praktischer Notwendigkeit entstanden: Da Stefan Dohr in beiden Hornkonzerten Solist ist, rahmen diese Stücke das Programm, das soll ihm dazwischen eine Verschnaufpause verschaffen. Aber tatsächlich ist die ungewöhnliche Reihenfolge auch schon eine gute Möglichkeit, einmal mit den üblichen Gewohnheiten zu brechen und ein anderes Hinhören zu ermöglichen. Es ist ja so, dass man bei einem Programm auch immer eine so etwas wie Meta-Sinfonie kreieren will. Jedes Stück birgt eine neue Perspektive auf das folgende und auch auf das vorangegangene.

Eröffnet wird das Programm durch Ligetis Hamburgisches Konzert – inwiefern ist das auch ein guter Ohrenöffner?

Ligeti hat ja dem Solisten, der zwischen Ventil- und Naturhorn wechselt, und dem Orchester, das temperiert einstimmt, vier unterschiedlich gestimmte Naturhörner zur Seite gestellt. Wenn die Naturhorn-Spieler:innen ihre Hände nicht zum Stopfen benutzen, gehen sie automatisch auf die nicht-temperierten Natur-Oberton-Reihen und erzeugen genau die „ungewöhnlichen“ Klangfrequenzen, die der Komponist gewollt hat. Im Gesamtklang ergeben sich Vierteltonreibungen und neue, schwebende Akkordkombinationen. Das ist gleich zu Beginn eine Erweiterung für unsere Ohren, fürs Publikum, aber auch für die Musiker:innen: Sie müssen dann sehr konzentriert intonieren und sich voll auf die ungewohnte Klangwelt einlassen. Das Stück lädt dazu ein, über unsere Hörgewohnheiten nachzudenken. Denn: Ist dieser Klang unsauber? Ein bloßes Störgeräusch? Oder einfach schön? Treten wir einmal ganz zurück, und machen wir uns klar: Wenn wir einen Ton hören, dann schwingen in seinem Klangspektrum so oder so natürliche Frequenzen bzw. Obertöne mit, die unser Ohr mal mehr und mal weniger deutlich wahrnehmen kann. Ligeti spielt damit, indem er mitschwingende Teiltonfrequenzen durch die Naturhörner sozusagen mechanisch verstärkt und hervortreten lässt – und sie eben direkt neben das wohltemperiert musizierte Klangspektrum stellt, ja, beide vermischt. Wenn wir uns das klarmachen, von Bewertungen wie „unsauber“, „störend“ etc. zurücktreten und unvoreingenommen, losgelöst von unseren kulturell gelernten Prägungen hören, macht das Stück umso mehr Spaß und eröffnet neue Hör-Horizonte.

Auf Ligeti folgt Dvořáks 8. Sinfonie – ist das nun eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Thema „Natur“? Man liest ja oft, Dvořák habe sich beim Komponieren der Sinfonie von der Natur seiner böhmischen Heimat inspirieren lassen ...

Sechzehn Jahre lang war ich Chef eines Orchesters, das viel über böhmischen Klang diskutiert hat. Natürlich hat niemand eine letzte Antwort, was das genau sein soll. Ich finde aber durchaus, dass man in Dvořáks Musik die Verwurzelung in seiner Heimatgegend spüren kann. Etwa die Flexion der Melodien, die sehr viel mit dem harmonischen Moll oder auch mal dem sogenannten „Zigeunermoll“ zu tun haben, stehende Quinten, bestimmte Harmonien und Leittöne und Ähnliches. „Slawisch“ ist schon etwas anderes als „Rheinisch“, und das ist, finde ich, sehr schön zu bemerken: Dvořáks Melodien klingen ja wirklich ganz anders als die von Brahms, Schubert oder Schumann. Außerdem sind es viele Melodien! Er schreibt lieber noch eine neue wunderbare Melodie, als seine bisherigen Themen zu bearbeiten. Man ist konfrontiert mit ständig neuer Kreation – anstelle dass er auf beethovensche Art bestrebt wäre, alles aus den ersten vier Tönen herauszuholen, was man herausholen kann. Das gibt der Musik von Dvořák immer eine gesangliche, sehr menschliche Seele. Und ständig scheint eine gewisse Trauer und Melancholie in seiner Musik zu schweben, ein wehmütiges Gefühl.

Auf eine andere Weise hat das nächste Werk, Z metamorphosis von Minas Borboudakis, Lokalkolorit. Es beruht auf einem Musiktheaterstück, das Ereignisse rund um einen ermordeten griechischen Oppositionspolitiker der 1960er Jahre thematisiert. Kann man die Musik überhaupt angemessen verstehen, ohne über diese Vorgeschichte Bescheid zu wissen? 

Das ist eine gute Frage, die man aber bei jedem Repertoirestück genauso stellen kann. Muss man zum Beispiel die Geschichte und Hintergründe von Parsifal kennen, um die Musik zu verstehen? Der größte Vorteil von Musik ist: Sie hat keine Wörter, ist nur Suggestion. Ich gehe davon aus, dass gute Musik verstehbar ist. Je vollständiger man aber den Hintergrund kennt, desto mehr kann einem das Stück wahrscheinlich geben. Ich glaube, bei zeitgenössischer Musik ist das eigentlich einfacher, als man immer denkt – gerade auch im Vergleich zu traditioneller tonaler Musik, die auf so vielen Regeln und Konventionen basiert. Wenn man diese nicht gut kennt, hat man nur eine geringe Chance, den Komponisten wirklich zu verstehen. Es geht da ja ständig um ein Spiel mit Erwartungen. Es wird zum Beispiel eine bestimmte Gattung bedient und werden bestimmte musikalische Elemente wie Rhythmen, melodische Motive, eine Grundtonart gesetzt, eine Tonreihe wird produziert – in dem Fall ist es wie ein Spiel zwischen Komponisten und Zuhörer, wie damit weiter verfahren wird, ob etwas Erwartbares folgt oder etwas Unerwartetes. Das ist die gesamte Struktur von tonaler Musik. Und im Grunde ist zeitgenössische, nicht-tonale Musik oft voraussetzungsloser – der Komponist verlangt nur Offenheit von den Zuhörern. Und Neugierde auf das nächste Klangereignis. Was sind das für Einfälle, wie hängen sie vielleicht miteinander zusammen? Ich finde also, man braucht für Z metamorphosis nicht die griechische Zeitgeschichte zu studieren. Viel wichtiger ist es, die Fähigkeit und Lust dazu mitzubringen, zwanzig Minuten still zu sitzen und Neugierde zu haben, mit den Ohren etwas zu erleben.

Neugierig macht auch die Äußerung Schumanns: ihm sei „etwas ganz curioses“ geglückt, so schrieb er über sein Konzertstück für vier Hörner, das das Programm abrundet. Worin liegt diese Kuriosität? 

Eigentlich ist die ganze musikalische Welt von Schumann kurios. Wenn man in seine Werke tief eintaucht, wird man konfrontiert mit seiner Verrücktheit. Wenn wir das spielen, nähern wir uns der Verrücktheit an; ja, ein Teil der Schönheit seines Stückes ist, dass man sein eigenes Gehirn mit dem eines Verrückten verbinden darf. Diese Verrücktheit spielt natürlich mit ganz normalen Bausteinen. Aber wenn die zusammengefügt sind, sind sie sehr überraschend. Zum Beispiel schon die Tatsache, dass vier Hörner als Solisten vorne stehen und zwei weitere im Orchester spielen – das hat wohl niemand vorher je so gemacht! Wahrscheinlich fand Schumann auch seine progressiven Experimente mit dem Ventilhorn kurios. Was kann man mit dieser neuen Technik machen, was verliert man zugleich von den Fähigkeiten und der Klangfarbenpalette des Naturhorns? In seiner Epoche waren viele andere noch dagegen, das Ventilhorn zu verwenden, zum Beispiel Brahms. Sie glaubten, dass man den Klang eines Naturhorns dem glattgebügelten des Ventilhorns vorziehen solle. Es gibt viele Aspekte an Schumanns Stück, die unerwartet gewesen sein müssen. Der gesamte Klang, die Virtuosität, die vielen Hörner. Es hört sich vielleicht für unsere Ohren zunächst vergleichsweise traditionell an, typisch mit der Romantik verbundene Assoziationen von Jagd und Wald kommen auf … Aber, und das finde ich eben wirklich spannend: Um die Verrücktheit und die Poesie von Schumann wirklich zu verstehen, muss man sich vorab sämtliche Konventionen und Zwänge, durch die er eigentlich gebunden war, alle Zwänge der tonalen Musik sowie der historischen Instrumente und Spieltechniken genau klarmachen. Die Poesie eines zeitgenössischen Werks ist da oft direkter und einfacher zu greifen – auch wenn es auf den ersten Blick unvertraut und komplexer erscheint.

Das Programm im Überblick: SIGNAL

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