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Auffallend selbstbewusst klangen die Manifeste, mit denen die „Groupe de l’Itinéraire“ – die Gruppe des (richtigen) Weges – ihre Gründung 1973 begleitete. Die französischen Messiaen-Schüler Gérard Grisey, Tristan Murail und Michaël Lévinas, dazu Hugues Dufourt, der in Genf studiert hatte, setzten sich absichtlich und mit Nachdruck zwischen alle stilistischen Stühle, die damals hießen: (Post-)Serialität, Postmoderne, Neue Einfachheit. Ihr Wortführer Grisey, der von 1978 bis 1982 bei den Darmstädter Ferienkursen unterrichtete, hielt dort programmatische Vorträge (wie: „La musique: le devenir des sons“ – Die Musik: das Werden der Klänge), in denen er eine neue Art biologistisches oder morphologisches Komponieren propagierte: „Mit einer Geburt, einem Leben und einem Tod ähnelt der Klang einem Lebewesen und neigt zu einer kontinuierlichen Transformation seiner Energie … Es ließe sich von einer Ökologie des Tons als einer neuen Wissenschaft träumen …“ Wenn man sich die Programmpunkte der Gruppen-Verlautbarungen anschaut, könnte man zunächst auf die Idee kommen, es handele sich um eine akustisch-vegetarische Diät, mit der man den Unbequemlichkeiten „richtiger“ neuer Musik aus dem Wege gehen wollte. Es ging um „Klang an sich“, der als lebendiger Organismus zu begreifen und prozessual zu entfalten war; dann um eine „weiche“ Periodizität des musikalischen Pulses nach Maßgabe des Herzschlags, nicht der Mechanik des Metronoms; ferner um einen sanften Wechsel von Spannung und Entspannung nach dem Vorbild des Ein- und Ausatmens; endlich ging es am auffälligsten „zurück zur Natur“ durch den planvollen Einbezug der Naturton- oder Obertonreihe, deren Existenz und Auswirkungen zwar zu den physikalischen basics jeglicher Musik zählen, aber nur gelegentlich ins Bewusstsein von Hörern und Musikern gehoben werden. Die intensive Beschäftigung mit den Obertonspektren und ihren befremdlichen mikrotonalen Bestandteilen gab der ganzen Richtung ihren Namen: musique spectrale. Wiewohl sie in den deutschen Avantgardezentren lange unter Hedonismus-Verdacht stand, darf sie keineswegs als Rückkehr zu vermeintlich typisch französischer Schönklang-Ästhetik missdeutet werden – dafür waren die programmatischen Forderungen zu ernst gemeint und zu entschieden verwirklicht: „kompositorische Disziplin, Mut zum künstlich Gemachten, entschiedener Rationalismus.“ Tatsächlich spielen jenseits der Naturmetaphorik naturwissenschaftliches Denken und komplexe Computersoftware eine wichtige Rolle: synthèse instrumentale nannte Grisey das Verfahren, Obertonspektren zunächst zu analysieren und dann von Instrumenten simulieren zu lassen oder sogar die Wirkungsweise elektronischer Geräte wie Ringmodulator und Harmonizer instrumental nachzubilden. Kompositorisches Kalkül verbindet sich bei den Spektralisten auf faszinierende Weise mit einer wiedergewonnenen Rolle der Musik als Geheimnisträger und einer rituellen, magischen Dimension, in der auch Prächtigkeits- und Überwältigungsaspekte eine Rolle spielen und psychedelische Wirkungen nicht ausgeschlossen sind.

Ins Innere des Tons

Wer sich näher mit Spektralmusik befasst, kommt mit den Kategorien der herkömmlichen Formen-, Melodie- und Harmonielehre nicht weit und muss musiktheoretisch zum Grundbaustein zurück, dem Einzelton und seiner „Hintergrundstrahlung“: der Obertonreihe. Sie bestimmt zwar die Klangfarbe jedes gesungenen oder gespielten Tons, bleibt aber beim Hören meist unterhalb der Wahrnehmungs- und Bewusstseins-Schwelle. Die synthèse instrumentale ändert das auf eine Weise, die dem Regenbogeneffekt bei der Aufspaltung von weißem Licht in einem Prisma ähnelt: Wenn Grisey vor Beginn einer Komposition einen bestimmten Ton eines bestimmten Instruments spektral hat analysieren lassen und das Ergebnis zur Basis eines Stückes erklärt, bleiben die Obertöne nicht mehr „geheim“ sondern werden explizit gespielt, einschließlich der im temperierten System „zu hohen“ und „zu tiefen“ Töne, die den Musikern die Wiedergabe von Mikrointervallen abverlangen. Dass dabei jedes Instrument auch seine eigenen Obertöne mit einbringt, macht die Sache noch komplexer – und farbiger. Das grundlegende Dur bzw. die leicht deformierten Sept- und Nonenakkorde der Naturtöne 1 bis 9 klingen oft durch und vermitteln den trügerischen Eindruck von Tonalität. Die möglichen Varianten der Spektren sind grenzenlos: es gibt solche aus geradzahligen und ungeradzahligen, harmonischen und inharmonischen Teiltönen, Synthesen aus unterschiedlichen Spektren, Filter und Blenden – es entstehen hybride Rätselgebilde, die eine reich schattierte Mischung aus Akkord und Klangfarbe sind und bei deren Hören man neben dem sinnlichen Reiz auch das Bedürfnis verspürt, zu ergründen, wie sie „gemacht“ sind. Der Klangvorrat reicht vom Einzelton bis zu „weißem Rauschen“ – geräuschhafte #multiphonics# der Holzbläser und forcierter Bogendruck der Streicher gehören deshalb zum Klang- und Spielrepertoire.

Griseys musique spectrale ist vieldeutig, changierend und fluktuierend, ihr Umgang mit Zeit und Tempi wird ganz individuell gelenkt von Überlegungen zu einer „psychologischen Zeit mit ihren relativen Werten“. Wer sich als Hörer solchen „Prozessen ... außerhalb der Gestik der Alltags-Zeit“ (Grisey) anvertraut, macht, wie Helmut Lachenmann, die „lustvoll irritierende Erfahrung von Klang und Zeit – sich ständig transformierend, zerfallend und sich kristallisierend: Phönix und Asche zugleich.“

Die akustischen Räume

Griseys Les espaces acoustiques sind ein Kompendium, ein Katalog, ein Lexikon, eine Enzyklopädie des Klanges und Referenzstück des spektralen Komponierens, gleichzeitig eine besondere Herausforderung für Dirigent und Instrumentalisten. Alle sechs Stücke des abendfüllenden Zyklus bis auf den Épilogue können einzeln gespielt werden, doch ist die integrale Aufführung wegen der internen Zusammenhänge und der planvollen Progression der Klangmittel sinnvoller – aber auch besonders aufwendig. Prologue ist für Solobratsche komponiert, Périodes für sieben und Partiels für achtzehn Musiker, Modulations für ein Kammerorchester von 33 Instrumentalisten, Transitoires für großes Orchester, aus dem sich in Épilogue noch vier Solohörner herausheben. Die Entstehungs-Chronologie verrät, dass der Zyklus-Gedanke Grisey erst später kam: Das solistische Vorspiel entstand nach Partiels, als drittes Stück also. Als Gesamt-Entstehungszeit werden gute elf Jahre von Anfang 1974 bis 1985 angegeben.

Überraschend trifft man auf einige szenisch-theatralische Elemente, darunter das ins Stück integrierte Stimmen der Bratsche, einen nicht zum Zuge kommenden Beckenschläger und eine Haydn-Reminiszenz am Ende von Partiels.

Der Prologue exponiert die Viola als Hauptdarsteller des Zyklus. Ein Herzschlag-Rhythmus spielt darin eine Rolle und eine langsame Spirale aus Teiltönen über dem Grundton des gesamten Stücks, dem E, das der Bratsche natürlich nicht erreichbar ist. Sie beharrt stattdessen mit ihrem Puls auf dem dritten Teilton, dem h, das auch erst durch Skordatur spielbar wird – durch das Herabstimmen der tiefsten Saite.

Périodes wurde in der römischen Villa Medici komponiert und uraufgeführt. Hier tritt die Klangbasis E als tiefste, leere Kontrabasssaite in Erscheinung. Die titelgebenden Perioden sind Prozesse, die „atmend“ zwischen unterschiedlichen instrumentalen Aggregatzuständen vermitteln: Liegeklänge fangen an zu vibrieren, entwickeln sich sukzessive zu Glissandi, die wiederum in rhythmische Pulsationen übergehen. Aufwärts-Glissandi mutieren zu Tonleiter-Ausschnitten; Klappengeräusche von Flöte und Klarinette wandeln sich in Repetitionen. Grisey ist ein „Meister des kleinsten Übergangs“.

Partiels gilt als spektralistischer Modellfall, vor allem wegen des Anfangsteils, der wieder auf dem Fundament E ruht; es wird besonders markant-insistierend diesmal von der Posaune gespielt. Sechzehn Mal bauen sich auf diesem Orgelpunkt jeweils modifizierte, opalisierende Oberton-Säulen auf. Die Frage, wie man ein solch naturhaftes, sich selbst immer wieder erneuerndes Klanggeschehen plausibel beenden könne, beantwortete Grisey mit einer Variante des berühmtesten Klassik-Scherzes, Haydns „Abschieds“-Symphonie: Die Musiker packen ein, unterhalten sich, klappen die Noten zu, und die Bläser befreien ihre Instrumente vom Kondenswasser. Ein Schlagzeuger positioniert sich zu einem virtuell gewaltigen Beckenschlag, der jedoch nie erfolgt. Das Bühnenlicht erlischt – Gelegenheit zum Ensemble-Austausch.

Wie Périodes und Partiels dem Pariser „Ensemble de l‘Itinéraire“, so ist das nächstgrößere Stück Modulations dem ebenfalls Pariser „Ensemble intercontemporain“ auf den Leib geschrieben. Es ist eine Gabe zum 70. Geburtstag von Olivier Messiaen, der, als Synästhesist und glühender Katholik, Vorstellungen von klingenden Regenbögen und dem himmlischen Jerusalem realisierte und einer der Vorväter des Spektralismus war. (Auch Wagner, Liszt, Debussy, Ravel, Skrjabin, Scelsi und Ligeti zählen zu den Ahnen.) Das Material liefern diesmal Sonogramme von Blechblasinstrumenten mit verschiedenen Dämpfern, und die synthèse instrumentale erstreckt sich nun auch auf die Imitation des elektronischen Ringmodulators, der zu jedem eingegebenen Intervall die Differenz und die Summe der Frequenzen bildet und sie hörbar macht. (Das Verfahren ist so tragfähig, dass Hans Zender es zum wichtigen Bestandteil einer neuen Harmonielehre, der „gegenstrebigen Harmonik“, machte.) Nie gehörte gläserne und gleißende Klänge werden von einem Instrumentalkorpus erzeugt, der sich in bis zu fünf Gruppen teilt. Inmitten von Farborgien erhebt die Bratsche noch einmal ihre einsame Stimme.

Mit Transitoires, komponiert in Berlin, wo Grisey Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes war, ist das Maximum an Besetzung und Intensität erreicht. Die von Idiophonen überglänzten, in- und übereinandergleitenden Klangmassen, Schlagzeuggewitter und zarten Glockenimitationen verführen zu kühnen Vergleichen mit tellurischen oder kosmischen Ereignissen, zumal Grisey hier mit einem neuen Konzept von unterschiedlichen, aber simultan verlaufenden Zeit- und Tempoebenen arbeitet, die sich zwischen „stark komprimiert“ und „extrem gedehnt“ bewegen.

Wieder wird der Solobratsche die Aufgabe erteilt, zwischen den Sätzen zu vermitteln.

Die Prominenz des virtuosen Hornquartetts im Épilogue bringt – neben der untilgbaren Assoziation an Wald und Jagd – auch eine leicht ironische Pointe mit sich, ist doch das Horn ein besonders obertonreiches Instrument, in dessen Entwicklungsgeschichte just die Vermeidung jener „schiefen“ Töne eine Hauptrolle spielt, die es hier – zahlreiche Glissandi inklusive – unentwegt spielen muss.

Das goethesche „Stirb und werde“ der Espaces kann nur durch einen gewaltsamen Tod unterbrochen werden: Er wird durch endgültige Schläge auf die große Trommel repräsentiert.

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