Bereits unsere Ankunft am 24. August in Frankfurt war anders als sonst: Wir checkten alle in Einzelzimmer statt wie bisher in Doppelzimmer im Ibis Budget ein. Da wir insgesamt nur 32 Orchestermitglieder waren, war die Wahrscheinlichkeit, sich im Hotel oder auf dem Weg zum Probenort in der Schwedlerstraße zu begegnen, recht gering. Also fand man sich einzeln zur ersten Tuttiprobe am Abend ein. Am Eingang wurde man von dem FSJler Jakob Föckel begrüßt, der Masken und Desinfektionsmittel verteilte. Oben im Dachsaal angekommen, wies Thomas Wandt jede/n einzeln an den Platz. Kein Begrüßungskomitee, keine Umarmungen, die strahlenden Gesichter unter den Masken verborgen – trotz des Alltags der vergangenen Monate fühlte es sich in diesem Kontext besonders ungewohnt an. Doch all das konnten wir ausblenden, als unser Dirigent Joolz Gale den Einsatz zum Anfangsakkord von Beethovens Siebter gab und uns die ganze Sinfonie durchspielen ließ. Was für eine Befreiung! Spätestens da wurde uns bewusst, wie sehr wir es vermisst hatten, im Orchester zu spielen. 

290820 Probe JDP 7

Wie gewöhnlich waren die ersten beiden Tage der Arbeitsphase gefüllt mit intensiven Registerproben, die uns anfangs viel Energie kosteten – solche Anstrengungen waren wir schließlich gar nicht mehr gewohnt. Am vierten Abend – sechs Tage vor dem ersten Konzert – kamen dann zu den Gesamt- und Tuttiproben die Workshops hinzu, in denen wir versuchten, die Musik in verschiedenen anderen Ausdrucksformen wiederzugeben. Wir hatten mit unseren Workshopleiterinnen und -leitern bereits in Zoom-Meetings vorgearbeitet, doch fehlte uns zu dem Zeitpunkt noch eine klare Vorstellung davon, wie das Endergebnis und der Weg dorthin aussehen würden. Wie sollten wir Beethovens Siebte verständlich in eine uns fremde Kunstform übersetzen und wiedergeben, wenn weder wir noch das Publikum die Musik dabei hörten? Und würde es uns gelingen, unsere Performance so glaubhaft darzustellen, dass die Konzertbesucherinnen und -besucher eine Verknüpfung zwischen dem visuellen und dem auditiven Erlebnis herstellen konnten?

Es wurden ein paar arbeitsintensive Tage, in denen wir in den verschiedenen Workshops völlig unterschiedliche Erfahrungen machten. Des ersten Satzes der Beethoven-Sinfonie nahmen sich sechs Actionpainter unter der Leitung von Patriks Zvaigzne an. Sie lernten, mit Farben und Spachteln umzugehen, und entwickelten eine Choreographie, in der sie mit kunstvollen Bewegungen drei Plexiglaswände, die zum Publikum ausgerichtet werden sollten, bemalten. Dabei orientierten sie sich mit der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen und der Farbgebung an der Musik. So eröffneten sie die Performance ruhig und zugleich majestätisch mit dem Einsatz der Farben weiß und gold. Auf die langsame Einleitung folgt in der Sinfonie das deutlich bewegtere Vivace. Diesen charakterlichen Gegensatz veranschaulichten die Musikerinnen und Musiker mit roter Farbe, während sie ihre Bewegungen immer weiter beschleunigten und die Farben  kreuz und quer auf den Wänden verteilten. In der Generalprobe durften auch wir anderen Orchestermitglieder uns an dem Farbenspiel erfreuen und waren die folgenden Abende erstaunt darüber, welch unterschiedliche Bilder bei jeder Performance trotz der festgelegten Abläufe zustande kamen. 

280820 workshop JDP 27

Der zweite Satz wurde in eine Tanzchoreographie übersetzt. Zusammen mit sieben anderen Musikerinnen entschied auch ich mich für diesen Workshop und war anfangs zugegebenermaßen skeptisch. Wie sollten wir Laien in dieser kurzen Zeit lernen, uns elegant zu bewegen, und uns dazu noch Abläufe und Schrittfolgen merken? Doch mit der Unterstützung, der Geduld und der Kreativität von Bénédicte Billiet und Sophia Otto gelang es uns, gemeinsam eine Choreographie zu entwickeln, die nicht nur das Publikum, sondern auch uns beim Tanzen emotional in die innerlich gehörte Musik eintauchen ließ. Auch wir orientierten uns mit den Bewegungselementen am Aufbau des Satzes. Dabei gab es ein Leitmotiv, mit dem wir einen Bogen vom Anfang bis zum Ende der Performance spannten: die Sehnsucht in der Musik, symbolisiert durch den ausgestreckten Arm, das Greifen nach etwas, das man doch nicht erreichen kann.

280820 workshop JDP 19

Dem dritten Satz widmeten sich die schauspielerisch Begabten unter uns. Gecoacht wurden sie im Physical Theatre von Lucy Flournoy – einer waschechten Powerfrau, die auch die Abendspielleitung des Projekts übernahm und regelmäßig morgendliche Workouts mit uns machte. In dem Workshop lernten die fünf Musikerinnen und Musiker, ihren Körper und ihre Mimik so zu beherrschen, dass sie sich pantomimisch ausdrücken und sich wie in Zeitlupe bewegen konnten. Auch sie studierten eine Choreographie ein, mit der sie verschiedene Bedeutungsebenen und somit die Komplexität der Musik aufzeigten. So gab es Gesellschaftstanz und einige spielerische Elemente, doch war diese Fröhlichkeit meist nicht von Dauer. Ein bitterer Beigeschmack entstand, als es um die Reaktion einer Gesellschaft auf (gefeierte) Führungspersönlichkeiten ging – wie Napoleon zu Beethovens Zeiten. Dafür baute man einen Gastauftritt unseres Dirigenten Joolz Gale ein, pompös aufgeladen durch Lichteffekte des Lichtdesigners Matthias Rieker und den stummen, aber geradezu übertrieben wirkenden Jubel der anderen Physical Actors.

280820 workshop JDP 2

Vom vierten Satz inspiriert fertigten acht technikbegeisterte Musikerinnen und Musiker zusammen mit ihrer Workshopleiterin Binha Haase eine Videocollage an, die den politischen Charakter der Musik hervorhebt. Sie kombinierten Ausschnitte aus aktuellen Protesten wie Black Lives Matter und der Klimabewegung Fridays for Future mit historischen Symbolen für Widerstand (die zur Faust geballte Hand) und Verbundenheit (eine kameradschaftlich ausgestreckte Hand). Dadurch ergab sich ein Zusammenhang zwischen der Gegenwart und der Entstehungszeit der Sinfonie, als die Menschen um die Befreiung von der Herrschaft Napoleons kämpften. Weitere Elemente des Videos sind ein schneller Schnitt, der sich am Rhythmus der Musik orientiert, und selbst gefilmtes Material, in denen die Musikerinnen und Musiker mit Megafonen, Horntrichtern und Bässen selbst zu Widerstandskämpfern werden.

280820 workshop JDP 41

Trotz der arbeitsintensiven Workshops lag unser Hauptfokus natürlich auf dem Musizieren. Das war auch gut so, denn wir sollten die gesamte Sinfonie auswendig spielen. Die wenigsten von uns hatten solch eine Erfahrung im Orchester bereits gemacht. Dementsprechend groß war der Respekt davor. Doch rückblickend betrachtet war alles nur halb so wild. Wir starteten gut vorbereitet, und nach neun Tagen intensiver Probenarbeit konnten wir das Werk tatsächlich in- und auswendig. Der erste Durchlauf ohne Notenpult fühlte sich regelrecht nach einer Befreiung an. Wie schön es war, miteinander Blickkontakt zu haben und sich gegenseitig anlächeln zu können, und wie anders man auf einmal hörte. Es war wie eine Schärfung der Sinne. 

Am 2. September waren wir dann wirklich bereit, unser Projekt auf die Bühne zu bringen. Das LAB in Frankfurt bot hierfür genau die richtige Kulisse. Es war zwar schade, dass aufgrund der Corona-Bestimmungen nicht mehr Publikum anwesend sein durfte, doch unsere Freude und Dankbarkeit darüber, überhaupt wieder auftreten zu können, wurde dadurch nicht getrübt. Auch die anderen Spielorte in Weikersheim, Darmstadt, Wolfegg und Berlin, die verschiedener nicht hätten sein können, machten jeden Abend zu einem einzigartigen Erlebnis.

Wir stellten uns jeden Tag neu auf die logistischen Gegebenheiten, die akustischen Bedingungen – die ohnehin aufgrund der Abstandsregeln nicht optimal waren – und Korrekturen im Ablauf ein. Dabei legten unser Künstlerischer Leiter Daniel Finkernagel, aber auch Lucy Flournoy als Abendspielleitung und alle anderen Künstlerinnen und Künstler eine bemerkenswerte Flexibilität an den Tag sowie die Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit Lösungen zu finden. 

Ohne die tolle Organisation unseres Teams, die Planungen des Dramaturgieausschusses und den Einsatz der Künstlerinnen und Künstler wäre dieses Projekt freilich nicht zu realisieren gewesen. An dieser Stelle möchte ich auch den unglaublichen Gruppenzusammenhalt von uns als Orchester hervorheben. Wir Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie stehen für Offenheit, Begeisterungsfähigkeit, Lebensfreude, Energie und gegenseitige Wertschätzung. Im Kontext dieses so schwierigen Jahres bekamen diese Eigenschaften eine ganz besondere Bedeutung und Wichtigkeit. Es gelang uns trotz der widrigen Umstände und unter Einhaltung der Abstandsregeln, intensive menschliche Erfahrungen zu machen und miteinander zusammenzuwachsen. 

Eine Zuschauerin sagte mir nach dem letzten Konzert in Berlin, dass wir auf sie wirkten wie eine Gruppe von Freunden, die beim Musizieren miteinander Spaß haben. Und ja – ganz genau so fühlte es sich auch an.

***

Naomi Hilger / Violine

Fotos: Salar Baygan

Top