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Historisch betrachtet schlummern in Blechblasinstrumenten Gebrauchsanweisungen für Verhaltensappelle: Mit gebrochenen Dreiklängen und Rhythmusvarianten dienten sie als Signalgeber für den Angriff oder das Zurückweichen auf dem Schlachtfeld, als Memento des Innehaltens an der Seite von Gefallenen, und besonders festliche Fanfaren kündigten die ehrgebietende Ankunft eines Herrschers an. Die Assoziation von Blechbläserklang und entsprechenden musikalischen Gesten mit Militär oder feierlicher Royalität, Jagd oder Apokalypse ging auch in die Kunstmusik ein, denkt man etwa an die eröffnenden Trompetenstellen in Monteverdis Orfeo, das Posaunensolo in Mozarts Requiem, das Trompetensignal in Beethovens Fidelio oder das berühmte Solo am Beginn von Mahlers 5. Sinfonie. Solche Signale zielen auf durchschlagende Klangwirkung ab. Tief im kulturellen Gedächtnis ist verankert, dass ein solches Signal uns zu etwas aufruft: Achtung, Gefahr droht! Achtung, lauf! Achtung, warte! Auf den ersten Blick könnte man vom Winter-Kammermusikprogramm C A L L, zumal es in lauten Großbuchstaben geschrieben ist, eine musikalische Appellmusik erwarten, ein monolithisches und grob gepinseltes Klangbild. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Die ausgewählten Werke ziehen durch kompositorische Raffinesse und Reflexivität in ihren Bann. Gerade das titelgebende Call für Blechbläserquintett von Luciano Berio (1985/1987) funktioniert anders, als man erwarten könnte. Berio bezeichnet das Stück als „Aufruf an das Publikum, eine Einladung zum Zuhören – bevor das Fest beginnt“. Nach insistierend repetitiven Eingangstönen, die durchaus an ein Wecksignal denken lassen, wird jedoch schnell klar, dass dieser Call kein einfacher Aufruf ist, sondern mit seiner stetig komplexer werdenden Textur und wie instantan scheinenden Reziprozität zwischen den fünf Instrumenten etwas hervorruft: eine Mischung aus Erstaunen und konzentriertem Mitdenken, eine ästhetische Erfahrung, die sich auf keine präformierten Codes zurückführen lässt, sondern ins freie Spiel der Sinne führt.

Als ‚Folge‘ Berios, namentlich seiner in der Schaffensfolge dem Call vorangehenden Sequenza X für Solotrompete kann Olga Neuwirths Laki (2006) bezeichnet werden. Dieses Stück wurde anlässlich einer multimedialen Berio-Hommage in Auftrag gegeben. Neuwirth schrieb zur selben Zeit ein Trompetenkonzert. Die Schwesternwerke entwerfen hoch virtuose, selten erkundete und vielseitige Klang- und Ausdruckswelten. Auch katastrophische Abgründe sind nicht fern, darauf stößt der Name des Stücks für Solotrompete: Laki heißt ein isländischer Spaltenvulkan, dessen historisch-verhängnisvoller Ausbruch in 1782/83 nicht nur verheerendste Folgen für Island hatte, sondern sogar merklich das Weltklima beeinflusste. Wo Laki an einen einsamen und waghalsigen Tanz auf dem Vulkan erinnert, ist das ein Jahr ältere Duo Reciprocity für Tenorposaune und Kontrabass-Tuba (2005) von James Meador eine innige Zelebration der Zweisamkeit und lotet die Grenzen der beiden Instrumente aus, die sich mal umschlängeln, mal entzweien und in höchste Höhen und tiefste Tiefen driften, ohne dabei je die gegenseitige Bezugnahme aufzugeben. 
Ebenfalls auf unbedingter Reziprozität, wenn auch einer ganz anderen musikalischen Formenwelt verhaftet, beruhen die Canzoni von Giovanni Gabrieli. In der polyphonen Anlage sind sie vokalen Motetten nachempfunden, markieren aber auch einen Übergang zu abstrakterem kompositorischem Vorgehen. Mit den Benennungen Canzoni per Sonare (1608) und – natürlich lange vor der klassischen Sonatenform – Canzone e Sonate (1615) ist explizit der instrumentale Charakter angesprochen, was zu jener Zeit eine Neuheit darstellte. Die Besetzung war keinesfalls auf ein Blechbläserensemble festgelegt, sondern die Canzone waren „per sonare con ogni sorte di stromenti“ und mit Generalbass gedacht.

Von einer anderen Seite blickt wiederum Francis Poulenc in der Sonata für Horn, Trompete und Posaune (1922/1945) auf das Thema „Sonate“. Gewidmet der proto-dadaistisch bewegten Raymonde Linossier, wirkt diese wie eine elegante Karikatur auf ausschweifende, klassisch-romantische Instrumentalsonaten. Aus drei kurzen Sätzen, Allegro moderato – Andante – Rondeau, weht der Geist der Groupe des Six: Ablehnung der romantischen und impressionistischen Musik und Hinwendung zu Formen der Unterhaltungsmusik, oftmals unter neoklassischem oder neobarockem Rückgriff auf ältere Formensprachen. Überraschend verwandt zeigt sich gerade hierin die Mini Overture für Blechbläserquintett (1982) von Witold Lutosławski, definierte der Komponist diese doch als „a small caricature of an overture“. Gleich einem Sonatensatz benutzt sie zwei kompakte kontrastierende Themen, das erste vorandrängend und vielgliedrig, während das ruhigere Seitenthema aus einem einzelnen Motiv geschichtet ist. Komponiert wurde die Ouvertüre als Auftragswerk zum Geburtstag von Ursula Jones, der Ehefrau des berühmten Trompeters Philip Jones, der seit den 50er Jahren für die Nobilitierung und Verbreitung der Musik für Blechblasensemble eintrat. Auch das New York Brass Ensemble, für das Malcolm Arnold sein Brass Quintet No. 1 (1962) schrieb, gehörte zu den Pionieren dieser Besetzung. Das letzte Werk der Winter-Kammermusik führt eine große stilistische Bandbreite vor ­– beginnend mit dem motivischen Wechselspiel zwischen hohen und tiefen Bläsern im Allegro über die abgründig dunkle Chaconne zur technischen Tour de Force mit jazzigen Einschlägen und galoppierenden Nachschlägen im Con brio. Hier spielt nun auch ein aufwärts schnellendes Fanfaren-Motiv eine determinierende Rolle. Ein Trompeten-Signal, das so enthusiastisch zum Spiel ruft und zugleich schon vorprescht, dass die Zuhörer spätestens jetzt merken: C A L L war nie ein Aufruf zum Zuhören, sondern das musikalische Fest hat längst schon begonnen. 

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Heidrun Eberl
Musikwissenschaftlerin