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Wagner – Saunders – Berg. Alle zwei Jahre steht das biennale Format FREISPIEL auf der Agenda der Jungen Deutschen Philharmonie, 2016 zum 5. Mal. Was 2008 als Kammermusikfestival in Frankfurt und Umgebung begonnen hatte, hat sich zur Carte Blanche gemausert: FREISPIEL kann sein, was es sein will, es ist das Sprungbrett ins künstlerische Neuland, mitunter auch ins gänzlich Unbekannte. Keine Vorgaben engen die jungen Studierenden ein, die auch in diesem Fall ihre eigene Dramaturgie, ihr eigenes Programm entwerfen. FREISPIEL will erstaunen, begeistern, verblüffen, verstören. Richard Wagner hätte das gefallen, Alban Berg auch. Und Rebecca Saunders war sofort Feuer und Flamme, als sie für ihre Mitwirkung angefragt wurde.


Richard Wagner, die beherrschende Figur der Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war nicht nur Komponist, sondern auch eine schillernde Figur: „Pumpgenie“, Dirigent, politischer Feuerkopf, steckbrieflich gesuchter Revolutionär und Freund von Fürsten, Königen und Großkapital, fleißiger Essayist und Verfertiger von mitunter atemberaubend unsinnigen und gefährlichen Texten, zweimal verheirateter Schwerenöter, Haustyrann und Vorreiter der Emanzipation, in ganz Europa und der halben Welt bekannter Entrepreneur in eigener Sache, Bankrotteur, Architekt, Schopenhauerianer und halber Buddhist – und vor allem: nimmermüder Reformer eines an sich schon in Gärung befindlichen Musiklebens. Es war bekannt, dass mit ihm schwer auszukommen war, aber was ihn über alle Zweifel erhaben macht, war sein unbedingter Wille, das Überkommene zu hinterfragen und der Kunst und insbesondere der Musik den ihr zukommenden Rang einzuräumen. 1852 schrieb er an seinen nachmaligen Schwiegervater Franz Liszt: „Kinder, schafft Neues!“ – zunächst bezogen auf das Unwesen, eigene Werke zu bearbeiten, aber zwanglos auf Wagners Gesamtwerk übertragbar, und hier ganz besonders auf Tristan und Isolde, diese radikal-neue „Handlung in drei Aufzügen“, wie Wagner sein Musikdrama selbst bezeichnete. Mit dem Tristan-Vorspiel beginnt UN/RUHE – FREISPIEL 2016. Dessen schwebender Beginn mit einer frei eingesprungenen Dissonanz, die sich in einem weiteren Spannungsklang nur teilweise löst, war revolutionär und sprengte in das Gebäude der Harmonielehre den ersten, entscheidenden Riss. Schönberg und die Seinen bezogen sich häufig auf Wagners Tristan-Vorspiel, dessen Beginn den Keim der Atonalität in sich trägt. Das Publikum der Uraufführung des Vorspiels 1860 spürte die Radikalität und lehnte das Stück ab.
Gut zwei Generationen nach Tristan vereinigte der Schönberg-Schüler Alban Berg fünf sinfonische Stücke aus seiner gerade in Entstehung befindlichen Oper Lulu zu einer Suite für Orchester und Koloratur-Sopran. Diese Auswahl entstand unter ökonomischem Druck und sollte seiner Oper den Weg bei Publikum und Intendanten bahnen. Hierzu kam es aber nicht mehr: Zwar wurde die Suite 1934 unter Erich Kleiber und mit großem Erfolg uraufgeführt, aber Berg starb ein gutes Jahr später, ohne seine Oper nach den beiden wilhelminischen Schockern Erdgeist und Die Büchse der Pandora von Frank Wedekind vollenden zu können. In einem exuberanten Klanggewand, das sein Herkommen von Wagners Spätromantik nicht leugnen kann und dessen Konstruktion doch genuin atonal ist, zeigt Berg in seiner Oper den Untergang des Vamps Lulu. Ihr Tod als Prostituierte in London durch Jack the Ripper wirkt wie eine Perversion des Liebestodes von Wagners Isolde: Wo Wagners Heldin, untröstlich über den Verlust des Geliebten, in heroischer Selbstauflösung verglüht (nicht umsonst heißt der Schluss von Tristan und Isolde bei Wagner „Isoldens Verklärung“), stirbt Lulu unter den Messerstichen eines Psychopathen – als eine Sexarbeiterin, die durch diese Tätigkeit dem Hungertod zu entkommen sucht. Berg kleidet Wedekinds bürgerliches Katastrophenspiel in außerordentliche Klangpracht, und die Lulu-Suite steht an Schwierigkeit dem Wagner’schen Liebestod in nichts nach. Die international renommierte Sopranistin Ana Durlovski übernimmt die Sopran-Partie. Mit der Lulu-Suite schließt das Programm.
Zwischen diesen beiden musikalisch-dramatischen Schwergewichten steht Rebecca Saunders’ Violinkonzert Still. Es wurde mit allergrößtem Erfolg beim Beethovenfest Bonn 2011 von Carolin  Widmann (Violine) und dem Dirigenten Sylvain Cambreling uraufgeführt. Beide wirken auch bei UN/RUHE – FREISPIEL 2016 mit. Vom Titel des Konzerts, einem doppeldeutigen Beckett-Wort, leitet sich auch der Titel UN/RUHE für die aktuelle Ausgabe von FREISPIEL her: „Still“ im Englischen bedeutet zum einen „still, ruhig“, zum anderen aber auch „immer wieder, immer noch“: Die Antagonisten Abgeschlossenheit und Dauer durchdringen sich. Und auch die zwei Teile des Konzerts könnten unterschiedlicher nicht sein, sind aber aus demselben musikalischen Material entstanden. Es ist kaum glaublich, dass der Furor des ersten Teils dieselbe Wurzel wie der romantische Gesang in fallenden Terzen im zweiten Teil hat. Dabei verweigert sich die Musik von Rebecca Saunders jeder Konkretisierung. In einem Vorbereitungsgespräch zu UN/RUHE stellte sie mit Bestimmtheit fest: „My music isn’t about anything. It’s about states.“ (Meine Musik handelt von nichts. Sie dreht sich um Zustände.) Für die Aufführung 2016 hat Rebecca Saunders ihr Werk erweitert. Sie hat ein musikalisches Scharnier zwischen den vorhandenen Teilen komponiert, das zum Brennpunkt von FREISPIEL 2016 wird: Ausgehend von diesem neuen musikalischen Material wird der knapp zweistündige Abend choreographisch durchwoben. Dabei bedingen Musik und Tanz einander, sind ohne das jeweils andere nicht (mehr) denkbar. In den Tänzerinnen und Tänzern der Company von Sasha Waltz & Guests hat die Junge Deutsche Philharmonie kongeniale Mitstreiter gefunden, die sich Innovation und Avantgarde auf die Fahnen geschrieben haben. Dabei wird der Tanz auch sozusagen auf die Musizierenden und die Solistin an der Violine übergreifen. Hauptwerk und Konzept von FREISPIEL 2016 stammen von Rebecca Saunders, szenische Umsetzung und Konzept von Jochen Sandig, neben vielem anderen einer der Gründer des RADIALSYSTEM V in Berlin, einem Freiraum für die Künste, in dem FREISPIEL 2016 auch gezeigt werden wird. Die Choreographie stammt von Antonio Ruz, die Lichtregie, die so bedeutsam sein wird, von Jörg Bittner (lesen Sie hierzu auch das Interview).
Überhaupt, die Partner: Ein so ambitioniertes Unternehmen funktioniert nur mit starken Verbündeten, die die kreativen Eruptionen kanalisieren und umsetzen können. Die Uraufführung von UN/RUHE – FREISPIEL 2016 könnte prominenter kaum platziert sein, ist sie doch das Abschlusskonzert der 48. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, die vor 70 Jahren zum ersten Mal stattfanden. Im RADIALSYSTEM V werden zwei Aufführungen stattfinden, ebenso wie beim Kunstfest Weimar, das mit UN/RUHE eröffnet wird. Und: Ein entscheidender Beitrag kommt von Sasha Waltz & Guests, denn die Vereinigung von Neuer Musik und zeitgenössischem Tanz in einem konzertanten Werk ist so innovativ wie Wagners Idee aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Publikum in Konzert und Opernhaus das Licht im Zuschauerraum auszuknipsen, damit es sich (endlich!) auf das Geschehen auf Podium und Bühne konzentriert. 150 Jahre später finden Konzert und Oper immer noch im Dunkeln statt … Ob Wagner das seinerzeit geahnt haben mag?
Bei aller Freude am Neuen greift UN/RUHE – FREISPIEL 2016 aber auch auf Vertrautes zurück. Die musikalischen Großformen entstammen gewachsenen Traditionen. Vorspiel – also Ouvertüre –, (Violin-)Konzert und Suite: Liegen die Ursprünge nicht in der Barockmusik? Zwar hat Wagner aus gutem Grund die Bezeichnung „Ouvertüre“ vermieden, die Funktion als Vorspiel zu seiner Oper ist aber geblieben; ursprünglich allerdings eröffnete eine Ouvertüre eine Suite, jene typisch barocke Folge von Tanzsätzen aus aller Herren Länder, höfische Unterhaltungsmusik aus der Zeit des Ancien Régime. Und dazwischen das Konzert, der Wettstreit zwischen Solistin und Orchester. Auch hier steht ein Unterhaltungsbedürfnis im Zentrum: Schafft es das Solo-Instrument, sich gegen den Orchesterapparat zu behaupten? Bewältigt die Solistin die technischen Anforderungen, ganz besonders in der halsbrecherischen, oft improvisierten und die Solistin als Komponierende zeigenden Kadenz? Bei der Ausnahme-Künstlerin Carolin Widmann braucht wohl niemand Angst zu haben. Auch um die europäische Musik muss einem nicht bange sein, wenn ihre Wurzel weiterhin Formate wie UN/RUHE – FREISPIEL 2016 hervortreibt.

Steffen Meder
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