Vermittlungsarbeit war von Anfang an ein zentrales Anliegen der Jungen Deutschen Philharmonie. Man wollte Altbekanntes anders präsentieren und damit neue Zugänge schaffen. Zeitgenössische Werke wollte man in einem Kontext darbieten, der sie verstehbar werden ließ. Das Ziel war es, neue Zuhörer zu gewinnen, mehr Menschen für die Klassik zu begeistern und die Daseinsberechtigung dieser Kunst mit vollem Eifer zu beweisen. Dabei fand das junge Orchester immer wieder neue Formen. Und wurde Vorreiter auf dem Weg zum Publikum.
In den 90er Jahren wurden die Werkstatt-Konzerte in der Hamburger Fabrik fortgesetzt und andere Vermittlungsprojekte, wie Schülerkonzerte in Witten und Konzerteinführungen in Frankfurter Schulen, etabliert. Und man suchte den Austausch. Zum Beispiel mit Musikern aus anderen Kulturen. Das gemeinsame Konzert mit den Moskauer Philharmonikern 1991 zum 50. Gedenktag des Einmarschs deutscher Truppen war ein starkes Zeichen kultureller Verständigung. Die von Rudolf Barshai dirigierte Leningrader, die 7. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, wurde live im Fernsehen übertragen und danach auf Vinyl veröffentlicht.
Durst auf Reflexion
„Es war eine Zeit, die neue Fragen stellte, auch an die Sinfonieorchester“, erinnert sich Ulf Werner, in den 80er Jahren Mitglied der JDPh und von 1993 bis 1997 Geschäftsführer des Orchesters. „Die meist absolut rückwärtsgewandten Klangapparate wurden beargwöhnt. Für uns war das weiterer Ansporn, das Neue zu suchen. Aber wir mussten uns auch Gedanken um unsere Mitglieder machen, denn es gab plötzlich Konkurrenz.“ Während die Junge Deutsche Philharmonie in ihren Gründungsjahren das einzige Orchester seiner Art war, kamen jetzt mehrere Sommerakademien und Jugendorchester hinzu. Auch die basisdemokratische Struktur war nicht mehr für jeden Musikstudenten reizvoll.
„Die Junge Deutsche Philharmonie lebte immer von der Identifikation und langfristigen Einbringung ihrer Mitglieder. Das ist ja das, was sie so einzigartig macht“, sagt Werner, heute Orchesterdirektor des Konzerthausorchesters Berlin. „Ich hatte schon damals den Eindruck, dass sich die Aufgaben eines Musikers in Zukunft wandeln werden, ein neuer Typ Musiker gefragt sein wird, der mehr kann als Sinfonien spielen, der seine Umwelt mitbetrachtet.“ Es wurde also relevant, zusätzliche Kompetenzen zu vermitteln. In den Gremien wurden Management-Fähigkeiten und soziale Kompetenzen ja bereits geschult. Das verstärkte Musizieren in den unterschiedlichsten Kammer-Ensembles sollte eine breite musikalische Erfahrung und Repertoire-Kenntnis bringen.
Doch man brauchte Strategien, die Vorzüge der Ausbildungsstätte Junge Deutsche Philharmonie zu kommunizieren. Und man wünschte sich ein stärkeres Netzwerk, mehr Veranstalterkontakte, um die Finanzierung zu sichern.
„Wir hatten Durst auf Reflexion, auf Impulse, auf Diskussion“, erzählt Ulf Werner. „Und wir wünschten uns eine Kompetenz von außen.“
„Wo Zagrosek ist, da ist endlose Energie“
Lothar Zagrosek hatte sich durch seine Einspielungen in der Reihe „Entartete Musik“ einen Namen gemacht. Er hatte ein ebenso großes Interesse an der Zeitgenössischen Musik wie die Junge Deutsche Philharmonie und hatte schon einige erfolgreiche Arbeitsphasen mit dem Orchester erlebt. „Ganz entscheidend war natürlich seine besondere Persönlichkeit, seine Offenheit und vor allem seine Lust auf die Werte Basisdemokratie und Selbstorganisation“, betont Ulf Werner.
Zagrosek spielt seit 1995 als Erster Gastdirigent und Künstlerischer Berater mutige Programme mit den Musikern, auch in außergewöhnlichen Kontexten – ob 1999 zum Finale der Internationalen Bauausstellung in der Kraftzentrale der stillgelegten Hochofenwerke Duisburg oder 2005 beim viel gelobten Konzert zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Es ist zum großen Teil Lothar Zagrosek zu verdanken, dass die Junge Deutsche Philharmonie mit den renommiertesten Dirigenten und Solisten arbeitet und international in den großen Sälen und auf den wichtigen Festivals auftritt. Dabei verstand sich der heutige Chef des Berliner Konzerthausorchesters nie als klassischer Maestro. Er sucht gegenseitige Inspiration, gibt Empfehlungen und fordert gleichzeitig zur Selbständigkeit auf. Und stiftet die Musiker zu immer neuen Höchstleistungen an. „Wo Lothar Zagrosek ist, da ist endlose Energie“, so Robert Hille, ehemaliger Musiker und Vorstand der Jungen Deutschen Philharmonie. „Wo Zagrosek ans Pult springt, ist Motivationskraft und Konzentration, auch nach neun Stunden Probenarbeit. Da sind allerdings auch Natürlichkeit, Charme, Sprachwitz und Sportlichkeit. Eitelkeiten sind ihm fremd.“
Der Oboist Simon Strasser erlebte einen immer hilfsbereiten Lothar Zagrosek: „In etlichen schwierigen Situationen, die wir im Vorstand zu bewältigen hatten, war ich froh und dankbar, dass er ein offenes Ohr für uns hatte.“ Ursula Gerstberger, von 2000 bis 2005 Geigerin und mehrmals Konzertmeisterin der Jungen Deutschen Philharmonie, äußert sich noch heute euphorisch: „Seine Energie und Freude konnte man am besten an seinen Augen ablesen, ich fand jede Arbeitsphase mit ihm sehr bereichernd.“
Der Kommunikator Zagrosek erweiterte das Netzwerk der Jungen Deutschen Philharmonie, die er gern seinen „Jungbrunnen“ nennt, enorm und engagierte sich immer wieder als Türöffner. „Durch Lothar Zagrosek wurden viele interessante Leute auf uns aufmerksam, und die Musiker waren mächtig stolz, einen solchen Berater an ihrer Seite zu haben“, beschreibt Ulf Werner die damals neue Situation. „Zagrosek stand für Vermittlungsarbeit, das passte extrem gut zu uns!“
Neue Pfade und einzigartige Chancen
Auf neue Pfade in Richtung Austausch und Vermittlung führte im Jahr 2000 eine Einladung des Goethe-Instituts. Man reiste mit Rudolf Barshai und Christian Tetzlaff nach Indien. Eine Welt, der die westliche Musik und insbesondere ihre Herangehensweisen weitgehend fremd ist, die aber auch musikalisch Überraschendes für die Jungen Philharmoniker bereithielt.
„Wir hörten viele indische Konzerte. Ein Stück dauerte da schon mal drei Stunden und das Konzert die ganze Nacht“, erzählt Miriam Müller, damals als Geigerin mit dabei.
In Workshops des Goethe-Instituts mit indischen Musiker-Größen trafen sehr verschiedene Ansätze aufeinander. „Die indische Musik ist eine Kunst der Improvisation“, erklärt Matthias Ilkenhans, von 2001 bis 2004 Geschäftsführer und in Indien als Projektmanager engagiert. „Es wird eigentlich keine Note notiert. In den Diskussionen zeigte sich, dass jeder seine Herangehensweise natürlich für die beste hält, aber es war bereichernd zu erfahren, wie es auch anders funktionieren kann.“ In Kalkutta spielten die Musiker auf Blechstühlen in einem stillgelegten Vergnügungspark. „Während eines Konzerts fiel auf einmal das Licht aus. Alle versuchten weiterzuspielen. Aber das ging natürlich nicht. Ein andermal lief plötzlich ein Hund über die Bühne“, erinnert sich Katrin Spodzeija, ehemalige Geigerin der Jungen Deutschen Philharmonie.
„Junge indische Musiker“, erklärt der Komponist Sandeep Bhagwat in dem damals entstandenen Dokumentarfilm „Raga on the Road“ von Carolin Reiter, „sind zwischen 30 und 40 Jahre alt, die Ausbildung dauert ein Leben lang. Dabei wird der Improvisation ein großer Raum gegeben.“ Die jungen Gäste aus Deutschland treffen hier überall auf Musik und sind inspiriert. In der nächtlichen Straße singt ein indischer Kioskbesitzer ihnen vor, und sie begleiten ihn mit Tuba und Posaune. Und auf dem Flughafen in Mumbai kommt es zur spontanen Blasmusik-Einlage, zu der Tetzlaff eine alte Dame behände zum Walzer bittet.
„Du gibst Dich hier völlig hin und befragst nicht pausenlos“, resümierte damals die Musikerin Christiane Volpert. Ein interessanter Ansatz für einen Musiker im Alltag der deutschen Musikhochschule.
„Die Angebote der Jungen Deutschen Philharmonie waren immer hoch spannend“, sagt Katrin Spodzieja. „Es war eine unglaubliche Vielfalt, und es boten sich einzigartige Chancen!“
Einzigartig war auch die Reise der Jungen Deutschen Philharmonie als erstes deutsches Orchester nach Nord- und Südkorea. Der damalige Leiter des Goethe-Instituts in Seoul, Dr. Uwe Schmelter, leistete eine ambitionierte Vertrauensarbeit, um den Besuch zu realisieren. Eingeladen wurden die jungen Musiker dann, um im Programm des nationalen Festakts zum 90. Geburtstag von Kim Il Sung, dem Staatspräsidenten der Demokratischen Volksrepublik Korea, zu konzertieren. Unter der Leitung Alexander Liebreichs spielten sie im ausverkauften Konzertsaal von Pjöngjang die 8. Sinfonie von Bruckner. „Man bat uns, im Anschluss die koreanische Hymne zu spielen, worüber es erst mal Diskussionen gab“, erzählt Ursula Gerstberger, Konzertmeisterin der Tournee, „aber dann waren wir uns schnell einig, uns als Gäste hier nicht zu politisch zu verhalten. Schließlich war es eine große Ehre, einen ersten Schritt in Richtung kultureller Verständigung zu tun.“ Das gemeinsame Konzert mit Studenten einer ortsansässigen Musikhochschule war indes die einzige intensivere Begegnung. „Die Musiker waren höflich und bemüht, aber ein richtiger Austausch war nicht erlaubt“, erinnert sich Ursula Gerstberger.
Die Musik der Deutschen wurde zunächst kritisch beäugt, erfreute sich dann aber doch so großer Beliebtheit, dass das staatliche Fernsehen das Konzert eineinhalb Tage lang im Loop ausstrahlte.
Ideen, Mut und der Zuspruch wichtiger Institutionen
„Guten Tag, meine Damen und Herren, wir haben nicht viel Zeit! Beethoven!“, so begrüsste Lothar Zagrosek die Musiker 2003 zu Beginn der Proben für die Sommertournee mit Südamerika-Reise. „Mit schier endloser Energie, mit seiner hervorragenden Technik und einer absoluten Selbstdisziplin schaffte er es, in sieben Tagen bei mindestens acht Stunden Proben täglich sieben extrem unterschiedliche große Werke auf den Punkt vorzubereiten!“, erinnert sich Friedrich Haberstock, damals Flötist bei der JDPh. Zu den Werken gehörte Beethovens Eroica und die 4. Sinfonie von Robert Schuhmann – dazu Werke von Pintscher, Ligeti, Berlioz und Strauss. Auf der Tournee kamen Auftritte mit dem Bachchor Mainz hinzu: Beethovens Missa Solemnis und Bachs h-Moll-Messe. „Der Menge an Musik entsprach die Menge an Rindfleisch, die wir im Paradies aller Fleischliebhaber in diesen knapp zwei Wochen konsumierten – arme Vegetarier“, berichtet der Schlagzeuger Geza Huba. „Die konnten sich immerhin damit trösten, dass wir gleich viermal im Teatro Colón spielen durften, wann hat man schon mal diese Gelegenheit.“
An diesen Saal erinnert sich auch Ursula Gerstberger besonders intensiv. Die Konzertmeisterin der Tournee weiß noch genau, wie sich der Augenblick vor Konzertbeginn anfühlte: „ich stand auf und schaute in diesen antiken Saal mit den großen roten Sesseln und dachte ‚Wahnsinn, Du spielst jetzt gleich ein Beethoven-Solo in Buenos Aires!‘ Das war einfach überwältigend, dafür habe ich kein anderes Wort.“
In Rio de Janeiro, Buenos Aires, Monte Video und Sao Paulo: Das Orchester spielte neun Konzerte, die überall größte Begeisterung fanden. „Wenn man die Filarmónica Joven de Alemania zum ersten Mal hört, glaubte man, eines der großen internationalen Spitzenorchester zu erleben“, schrieb ein Kritiker in „La Nación“. Dabei hatte man sich zuvor einige Sorgen gemacht, ob die Tournee überhaupt stattfinden würde. Argentinien erlebte die heftigste Finanzkrise seiner Geschichte, und um die Kultur stand es vielerorts äußerst schlecht.
„Die Junge Deutsche Philharmonie lebt von ihrem Mut, den Ideen und dem Engagement der Musiker, aber genauso auch vom Zuspruch wichtiger Kulturinstitutionen wie dem Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt“, stellt Matthias Ilkenhans fest. „Es war immer auch das Interesse und die Initiative von Institutionen und Veranstaltern, die neue, entscheidende Projekte ermöglichten.“
Zum breiten Spektrum gehören natürlich auch die preisgekrönte Aufführung der Kinderoper „Brundibar“, 1997, der Clubabend mit Videokunst, Prokofieff und Schostakowitsch in der „Yellow Lounge“ 2006 in Berlin und nicht zuletzt der Fernseh-Auftritt im ZDF bei der Gruppenauslosung für die WM 2006.
Es ist wohl die hohe Qualität, kombiniert mit einer enormen Offenheit und Neugier für unbekanntes Repertoire und der besonderen Frische, mit der das Orchester Altbekanntes präsentiert, was Musiker, Veranstalter und Publikum immer wieder begeistert. Die Musiker bleiben jung und leidenschaftlich – deshalb ist es auch ihre Musik.
***
Julia Becker