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Ein heißer Nachmittag im August 1973: eine Hotellobby in London. Jugendliche sitzen dicht gedrängt auf den Sofas und diskutieren. Adrenalin liegt in der Luft. Es sind junge Musiker, die nach ihrer Sommertournee mit dem Bundesjugendorchester (BJO) einen Auftritt in London hatten. In der Auswahl eines Jugendorchesterfestivals konzertierten sie in einem Park vor 25.000 Menschen. Ein grandioses Konzert. Unter den Musikern: Karsten Witt, 21 Jahre alt. Er hat die Altersgrenze des BJO erreicht. Und nicht nur er fragt sich: Was kommt jetzt? Die Musiker sind mitten im Studium oder kurz davor, das Profiorchester ist noch ein paar Jahre entfernt. Aber alle wollen direkt weiter Orchester spielen, so intensiv wie im BJO. Denn hier ist nicht nur die künstlerische Arbeit mit den besten Kollegen der Ansporn. Die Musiker können inhaltlichen Einfluss nehmen. Witt ist Orchestersprecher und schätzt die Arbeit im Vorstand: Die Ideen der Musiker werden ernst genommen, man berät gemeinsam über Programme und Konzertorte, jeder kann sich einbringen. An diesem Nachmittag in London nimmt eine genauso eigenwillige wie naheliegende Idee ihren Lauf: die Idee des Bundesstudentenorchesters.

Das ideale Orchester schaffen

„Wir hatten den Traum, das ideale Orchester zu schaffen“, erzählt Karsten Witt, „Wir wollten Werke spielen, die uns Spaß machen, alles selbst bestimmen, uns ausprobieren!“ Man beschließt, einfach weiterzumachen, auf eigene Faust, ohne Maestro. Aus heutiger Sicht eine recht naive Unternehmung. Hier saßen ein paar Jugendliche, die zwar überdurchschnittlich talentierte Musiker waren. Aber die für Management und künstlerische Leitung eines Orchesters notwendige Erfahrung brachte niemand mit. Und die Entrüstung der Musikfunktionäre über ein Orchester ohne Chefdirigent war zudem vorprogrammiert.

Wo wollte man proben und auftreten? Wie sollte sich das Orchester finanzieren? Wie waren renommierte Dirigenten zu überzeugen? Auf den Tag in London folgten Gespräche, die sich über Monate hinzogen. Aber die Gründer um Karsten Witt sahen keinen Grund zur Sorge. „Es gab keine Vorbilder und so auch keine Erwartung von außen. Wir wollten es unbedingt und wussten, wie gut wir sind. Wir haben einfach unser Ding gemacht!“, freut sich Witt noch heute über die erfrischende Arglosigkeit dieser Jahre. Nach und nach wurden die Grundsätze beschlossen und niedergeschrieben. Die Hälfte der neuen Mitglieder waren ehemalige BJOler, diese sprachen Freunde an, um die andere Hälfte zu gewinnen. Zunächst eine absurde Vorstellung, das hohe Spielniveau war ja schon damals die wichtigste Maxime. Doch genau die ließ sich am besten durch persönliche Empfehlungen sichern. Jeder Musiker übernahm die Verantwortung für das Können des Empfohlenen. Und hervorragende Instrumentalisten, die schon lange auf eine solche Chance warteten, gab es genug. Es existierte kein vergleichbares Orchester, viele suchten nach dem, was die Lücke zwischen Jugend- und Berufsorchester schließen könnte.

Von Anfang an war genau das ein Motiv von Karsten Witt: „Ich dachte immer, Berufsvorbereitung und Einstieg in die Praxis sollten möglichst eng beieinander liegen, am besten, beides fällt zusammen!“ Mit dem neuen Orchester gab es plötzlich die Chance, eine Orchesterpraxis zu erleben, die den gleichen Anspruch hatte wie das Spiel im Profiorchester. Der  entscheidende Unterschied lag in der Organisationsform. Im August 1974 wurde eine Satzung verabschiedet, die die besondere Struktur des Bundesstudentenorchesters definierte. Basisdemokratie war das Stichwort. Die Orchestervollversammlung war das entscheidende Gremium, ein Programmausschuss und der Vorstand erarbeiteten Konzepte, die dem Plenum zur Abstimmung vorgelegt wurden. Man verließ sich ganz auf das Engagement der Mitglieder.

Den Prozess der Ergebnisfindung mitgestalten

„Aufregend, aber langwierig und schwierig waren die ersten Arbeitsphasen wegen der vielen Diskussionen“, erinnert sich der Geiger Christian Berger, heute Professor an der Universität Freiburg. „Es gab dort harte Kämpfe zwischen den konsequent basisdemokratischen Kräften und dem eher pragmatischen Kurs des idealistischen Realisten Karsten Witt und seiner Mitstreiter.“ Die demokratische Struktur kostete Zeit und Kraft. Einigen Musikern, die in erster Linie hier waren, um mit den besten Kollegen unter spannenden Dirigenten ausgefallene Programme zu spielen, gingen die Auseinandersetzungen durchaus auf die Nerven. Der heutige Dirigent Peter Rundel gehörte zu jenen. „Aber immerhin: Ich war auf diese Weise gezwungen, mir eine Meinung zu bilden und den Prozess der Ergebnisfindung mitzugestalten“, sagt er im Rückblick. „Nicht der Diskussionsgegenstand war das Wesentliche, sondern der Weg dorthin war es, der zum Ziel hatte, selbständig denkende Mitglieder eines Kollektivs zu  formen, wie es sie in der Realität der Berufsorchester nicht gerade zahlreich gibt!“ So aufreibend manche Sitzungsnacht war, so stolz waren die ersten Mitglieder des Bundesstudentenorchesters, als ihr eigenes Projekt dann Realität wurde.

Die Auszeichnungen waren Beweis für den Erfolg

In den ersten Arbeitsphasen waren die Programme noch eher konventionell. Volker Wangenheim, als Dirigent des BJO der nächste Vertraute, übernahm die Leitung. Aber schon 1976 konnte keiner mehr von einer alternativen Gruppierung weltfremder Idealisten sprechen: Das  Bundesstudentenorchester gewann den 1. Preis des Internationalen Jugendorchester-Wettbewerbs der Herbert-von-Karajan-Stiftung. „Jetzt haben wir uns einen Künstlernamen verdient“, konstatierte Karsten Witt damals.
Und ab sofort hieß man „Junge Deutsche Philharmonie“. Nur zwei Jahre später wurde das Orchester beim Deutschen Schallplattenpreis zum Künstler des Jahres gewählt. Die Auszeichnungen waren Beweis für den Erfolg der Unternehmung und ermutigten zu neuen Taten. „Während die ersten Diskussionen noch völlig abstrakt waren, konnte man mit dem existierenden Orchester erst richtig loslegen“, berichtet Witt. „Damals sprach man gern von „alternativen Konzertformen. Wir haben das einfach mal ausprobiert.“ Die Musiker waren neugierig und hatten programmatische Ansprüche. Neue Musik zu spielen und diese
auch für ein breites Publikum zu präsentieren war ein Anliegen. Als Hamburger hatte Witt schon lange davon geträumt, mal in der „Fabrik“ aufzutreten, einem Kulturzentrum, in dem bisher nur Jazz- und Rock-Combos Konzerte gaben. Die stillgelegte Maschinenfabrik, in der die Zuschauer sich rund um das kaum erhöhte Podium und auf einer um den Saal laufenden Empore aufhalten konnten, erschien wie geschaffen, um die Musik dem Publikum ganz nah zu bringen. Werkstatt-Konzerte mit genügend Raum für Fragen und Erläuterungen sollten stattfinden. Die Veranstalter waren begeistert, und über die Mutter einer Freundin konnte Witt sogar einen Sponsor für das Event finden. Und nicht nur für dieses: MobilOil, die heutige Firma ExxonMobil, unterstützt das Orchester 2009 im 30. Jahr! 1981 trat die Junge Deutsche Philharmonie erstmals in der Fabrik auf. Ausschließlich Musik des 20. Jahrhunderts stand auf dem Plan. Auf Rachmaninows zweites Klavierkonzert folgte ein Orchesterstück von Witold Lutosławski, der selbst dirigierte und das Stück erläuterte. Beim nächsten Werk saß das Publikum auf der Bühne, und sechs Schlagzeuggruppen waren im Raum verteilt. Nachts spielte noch der Boogie-Pianist Vince Weber. Bei einem weiteren Workshop traten eine Tänzerin und ein Pantomine zur Musik auf, später experimentierte man mit Lichtgrafiken, und Goergette Dee begleitete die Musik mit einer szenischen Lesung. Die jedes Mal zum Bersten gefüllte Halle jubelte. Die Presse nicht weniger.

Das besondere Interesse für die Neue Musik

„Aus jedem Erfolg wurde ein neuer Anspruch. Und die inhaltlichen Diskussionen wurden komplexer und konfliktreicher“, erinnert sich Witt. Auch Reinhold Friedrich, zwischen 1979 und 1982 Mitglied, sind die heißen Themen noch präsent: „Dürfen wir es zulassen, dass Sergiu Celibidache unser Orchester dirigiert, obwohl er für eine extrem harte Umgangsart bekannt ist, wollen wir uns auf eine kommerzielle Nutzung von Tonträgern überhaupt einlassen, wo wir doch im Begriff waren, die ausgetrampelten Pfade der Profis zu vermeiden? Die Diskrepanz der einzelnen Positionen hätte nicht größer sein können.“ Der heutige Startrompeter weiß noch, dass er erst zögerte und dann doch froh war, sich für die Junge Deutsche Philharmonie entschieden zu haben. „Im ‚Inner Circle‘ des Orchesters konnte ich unendlich viele Dinge lernen, die mir heute noch von großer Hilfe sind“, stellte Friedrich schon in seinem Rückblick zum 20-jährigen Jubiläum fest. Die Qualität des Ensembles und die innovativen Projekte begeisterten renommierte Dirigenten und Solisten, mit der Jungen Deutschen Philharmonie aufzutreten. Finanzielle Unterstützung kam zunächst vom Deutschen Musikrat und der GVL, später auch von Stadt, Land und Bund,denn das Ensemble war zur wichtigsten Ausbildungsstätte neben der
Hochschule avanciert. Finanzielle Unabhängigkeit war den Musikern wichtig, und so finanzierte man sich zu einem großen Teil selbst durch Konzerthonorare, die noch heute 45 % des Budgets ausmachen. Was die Programmkonzeption betraf, wurde das besondere Interesse für Neue Musik konsequent in Taten umgesetzt. Ein konzeptionell spannendes und viel gelobtes Projekt entstand 1983: „Opus Anton Webern“. Unter der Leitung von Gary Bertini wurden bei den Frankfurt Festen, bei den Berliner Festwochen und bei weiteren sechs Tournee-Konzerten mit vier Solisten zehn Programme aufgeführt, die insgesamt 13 Werke von Renaissance bis Moderne bedacht kombinierten. Nicht weniger Aufsehen erregte 1990 die Aufführung von Karlheinz Stockhausens Hymnen 22/3, die er selbst dirigierte. Unter Rudolf Barshai spielte die Junge Deutsche Philharmonie 2001 Mahlers 10. Symphonie in einer von Barshai vollendeten Fassung. Zu diesem Zeitpunkt hatte man die Scheu vor Mitschnitten und CD-Aufnahmen längst abgelegt. Zahlreiche CDs waren erschienen, neben der genannten auch die 5. Symphonie von Mahler, Surrogate Cities von Heiner Goebbels und Le Sacre du Printemps, das unter der Leitung von Péter Eötvös eingespielt wurde.

Wichtige Wegbegleiter unterstützen neue Formationen

Aus der Leidenschaft für die zeitgenössische Musik entstand schon 1980 eine besondere Formation in der Jungen Deutschen Philharmonie. Die Idee wurde bei den Planungen für das Projekt „Opus Anton Webern“ und mit der Unterstützung des damaligen Deutschlandfunk-Redakteurs Reinhard Oehlschlägel immer plastischer. Er besuchte die Musiker auf einer Arbeitsphase in Witten und ermöglichte im Sendesaal des DLF in Köln ein erstes Konzert des Ensembles, das 1986 als „Ensemble Modern“ selbständig wurde. „Es gab immer Anreger, die eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Orchesters spielten“, erzählt Witt. „Eine andere wichtige Person war Helmut Kühn, damals Vizepräsident der Hochschule der Künste Berlin. Gemeinsam mit Ullrich Eckhardt, dem damaligen Intendanten der Berliner Festwochen, ermöglichte er die Proben in der HdK, und ab 1977 spielten wir auch bei den Festwochen.“ Dr. Dieter Rexroth, damals künstlerischer Leiter der Frankfurt Feste, war ein weiterer wichtiger Wegbegleiter und Förderer des Orchesters. Die Neugier und Risikobereitschaft der jungen Musiker, die Art, wie sie sich mit der Neuen Musik auseinandersetzten, begeisterte ihn und führte zu einer jahrzehntelangen Verbundenheit. Dieser Geist der Jungen Deutschen Philharmonie, die besondere Offenheit der Mitglieder brachten außer dem Ensemble Modern weitere Kammermusikgruppen hervor, die zunächst im großen Orchester beheimatet waren und sich dann zu eigenständigen Ensembles entwickelten. Die Deutsche Kammerphilharmonie, das Bläserensemble „Bach, Blech und Blues“ und das Ensemble Resonanz gehören dazu. Was die BJOler sich an jenem Londoner Nachmittag im August 1973 ersponnen hatten, wurde Wirklichkeit und pflanzte sich fort. Immer neue ambitionierte Musiker wurden angezogen von diesem einzigartigen Ensemble. Dass fast alle der ehemaligen Mitglieder heute nicht nur sehr erfolgreiche Orchestermusiker, Solisten und Professoren sind, sondern nicht selten auch eine einflussreiche Position bekleiden, in der sie neuen Ideen zur Realisierung verhelfen, ist wohl kein Zufall.


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Julia Becker





Lesen Sie in der nächsten Ausgabe alles über die bereichernde
Zusammenarbeit mit Dirigent Lothar Zagrosek, eine spannende Südkorea-Tournee, das Konzert zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals, die „Yellow Lounge“ mit Andrey Boreyko und die aktuellen Ereignisse.

Im ConBrio-Verlag sind die beiden Bücher „20 Jahre Junge Deutsche Philharmonie“ und „Deutsche Orchester – Zwischen Bilanz und Perspektive“ (zum 30-jährigen Jubiläum) erschienen. Sie sind über den Verlag unter www.conbrio.de oder über die Junge Deutsche Philharmonie unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. zu bestellen. Die Bücher erhalten Sie ebenfalls an unserem Infotisch bei den Konzerten!