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Zur amerikanischen Musiktradition

— Auf das viel beschworene puritanische Erbe geht die amerikanische Musiktradition bestimmt nicht zurück, mochte die neuenglische Geistlichkeit den Gemeindemitgliedern noch so eindringlich predigen, beim Singen nicht „oben zu quäken und unten zu brummen“.

Anscheinend musste erst eine Revolution stattfinden, bis anhand der National Melodies of America akustisch erträgliche, wenn auch übermäßig patriotische Gesänge erklangen. Im 19. Jahrhundert zählen zur Vielfalt des amerikanischen Musiklebens die Minstrel Show ebenso wie die Kirchenchöre der Mormonen, die französischen Volkslieder der Cajuns in Louisiana, die Spirituals schwarzafrikanischer Sklaven oder das Liedgut des Bürgerkriegs (Battle Hymn of the Republic). Unverwechselbare Komponisten jener Zeit wie Louis Moreau Gottschalk, Sidney Lanier oder Stephen Foster, später dann Scott Joplin haben Musikgeschichte geschrieben.

Wie in den anderen Künsten ging es in der symphonischen Musik um die Loslösung von europäischen Vorbildern. „Amerikanisten“ nennt der Musikhistoriker Gilbert Stuart diejenigen Komponisten, denen es um genuin amerikanische Musikformen ging. George Gershwin gehört natürlich dazu, auch Aaron Copland, William Schuman oder Virgil Thomson. „Die Ideale Amerikas sind unvergänglich, sie werden einmal das Credo der ganzen Menschheit sein“, schrieb der Schweiz-Amerikaner Ernest
Block in einem „Vorwort“ zu seiner Symphonie mit dem einfachen Titel America (1927). Der große Charles Ives wollte seine Kompositionen als transzendentale Sprachformen verstanden wissen, als Symbole der Bewegung, als Suche nach Wahrheit in einem unendlichen Raum, so wie Ralph Waldo Emerson, Amerikas repräsentativer Denker. Ziel der Concord
Sonata war für Ives, dem Konzertbesucher ein „jump-up feeling“ zu verschaffen.

Das Musiktempo entspricht dem amerikanischen Lebenstempo. Eine Kirchengemeinde in den USA, wunderte sich ein Sozialwissenschaftler, „singt nicht lethargisch eine halbe Note hinter dem Instrument her, sondern selbstbewusst und aktiv eine Viertelnote voran“. Der Quickstep, der Drive des Jazz in Duke Ellingtons Take the ‘A’ Train, der Rock ’n’ Roll – sie
signalisieren Bewegung und mehr als Bewegung. „Nothing’s fixed“, lautet das Axiom von John Cage. „Meine Stücke“, sagte er, „sind keine Objekte, sondern ihrem Wesen nach absichtslose Prozesse.“ Objekte müssen beseitigt, Grenzen überschritten, Irdisches zurückgelassen werden. Den New Yorker Minimalisten ging es darum, dem Zuhörer über die Schwelle der Langeweile zu helfen, ihn in einen Zustand meditativer Transzendenz
zu versetzen, ihn auf eine andere, höhere Bewusstseinsebene zu transportieren. Philip Glass lässt in Einstein on the Beach (1976) ein Raumschiff ins Weltall entschweben.

Die Rocksängerin Janis Joplin bekannte in einem Interview:
„Singing wants me to go out more, come out, flow out“. Simon & Garfunkels expliziter Wunsch ist es, sich vom Erdboden zu lösen:

Away I’d rather sail away
like a swan that’s here and gone.
A man gets tied to the ground
he gives the world its saddest sound.
Its saddest sound.

Nicht alle Europäer haben den hier geschilderten Grundzug der amerikanischen Musik begreifen können. Aber dem Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer ist ein vielsagender Vergleich gelungen. In seiner Schrift „Die Angst vor Nähe“ stellt er Bob Dylans Song Go away from my window neben ein Lied, das Don Juan unter dem Balkon seiner Liebsten darbringt: Vieni alla finestra, o mio tesoro.

Unüberhörbar also die zentrifugalen, klaustrophobischen, philobatischen Charakteristika quer durch alle Gattungen des amerikanischen Musiklebens. Eine typische Dirigierpose von Leonard Bernstein: das Gesicht himmelwärts gerichtet, die rechte Hand mit gespreizten Fingern nach oben weisend. „The Sky is the Limit“ heißt das Motto. Es gilt nicht nur in der Raumfahrt und – bis vor kurzem wenigstens – an der Wallstreet.
Es gilt auch für die amerikanische Musik.


***
Prof. Dr. Gert Raeithel / war von 1980 bis 2003 Professor für Amerikanische
Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist
Autor zahlreicher Bücher und Artikel, darunter seine dreibändige
„Geschichte der nordamerikanischen Kultur“.

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