Wer kann seit einem Jahr kein Lied von durchkreuzten Plänen singen? Eigentlich hätte die Frühjahrstournee der Jungen Deutschen Philharmonie ganz im Zeichen ihres feierlich anmutenden Mottos REIGEN gestanden. Also jener Form des Gruppenrundtanzes, die uns heute vor allem in übertragener Bedeutung auf eine bunte, fröhliche Folge schöner Dinge hinweist. An Musik gedacht, kommt uns aber auch der mystische, ja verstörend-bedrohliche Frühlingsreigen aus Igor Strawinskys Ballettmusik Le sacre du printemps in den Sinn. Doch kein „Reigen“ in Pandemiezeiten – auch alternative Programmideen konnten die Frühjahrstournee des „Zukunftsorchesters“ mit der Geigerin Veronika Eberle und Musik von Béla Bartók, Anton Webern und Igor Strawinsky leider nicht retten.
Apropos anders vorgestellt: Eigentlich schwebte Béla Bartók für sein zweites Violinkonzert als Idee eine Abfolge von Variationen vor. Der für die Uraufführung vorgesehene Geiger Zoltán Székely, für den Bartók das Konzert schrieb, bestand jedoch auf einer traditionellen Konzertform. Bartók musste umdisponieren. Nach rund zwei Jahren, kurz vor Bartóks Emigration in die USA, war der langwierige Entstehungsprozess im März 1939 schließlich beendet. Das Ergebnis: ein Kompromiss.
Der mit einem zarten Harfenvorhang eröffnende Kopfsatz, nach dem der Solist die Konzertbühne betritt, folgt formal den Konventionen. Er wird von Kontrasten und Stimmungsumschwüngen bestimmt, die Bartók in der Partitur akkurat notierte. Der Solist tritt hier unverkennbar als Protagonist in Erscheinung und führt durch das musikalische Geschehen. Eine Zwölftonmelodie als zweites Thema sorgt für Verwunderung in dieser klar in der Tonalität verankerten Musik. Schließlich war der ungarische Komponist wahrlich kein Verfechter dieser von Arnold Schönberg in Wien entwickelten, neuartigen Kompositionsmethode, die allen Tönen die gleiche Bedeutung beimaß und gewohnte Vorstellungen des Denkens in Harmonien auf den Kopf stellte. Für Bartók waren vielmehr die Volksmelodien seiner ungarischen Heimat und somit ein durchaus national zu verstehendes Musikdenken wesentlich, das zu der Zeit sicher nicht als das revolutionärste galt. Ungarische Einflüsse finden sich zweifellos auch in Bartóks Violinkonzert.
Der zweite, von lyrischem Charakter geprägte Satz enthält dann jene von Bartók gewünschte Variationenfolge; sie basiert auf einem gesanglichen Thema, das verschieden eingefärbt wird. Was im Kopfsatz noch mit den Gattungsnormen gebrochen hätte, verdient an dieser Stelle kaum das Merkmal ungewöhnlich. Anders der Schlusssatz, den man als Variation, wenn nicht gar als Kopie des ersten Satzes verstehen kann. Analog zum Ablauf des Kopfsatzes dient dasselbe Material als Grundlage für eine anders beschaffene musikalische Ausarbeitung. So werden in rhythmischer Variation und schnellem Tempo die Parallelen dieses teils zügellosen Finales zum Beginn des Konzerts geschickt verschleiert.
Als Zoltán Székely bei der Uraufführung im März 1939 unter der Leitung von Willem Mengelberg in Amsterdam den Geigenpart spielte, war es Bartók – der das Konzert selbst erst vier Jahre später in der New Yorker Carnegie Hall zu hören bekommen sollte – letztlich doch gelungen, eine Variationenfolge in Konzertform zu komponieren, ohne dem Solisten auf den Schlips zu treten. Alle zufrieden also? Beinahe. Um die Solovioline prominenter ins Licht zu stellen, wünschte sich Zoltán Székely noch einen neuen Schluss – diesmal beugte sich Bartók, der Geiger sollte ihn bekommen.
Im Gegensatz zu Béla Bartók war Anton Webern mittendrin, als im Wien der Jahrhundertwende die Grenzen der Tonalität ausgereizt und überschritten wurden – der Schüler von Arnold Schönberg zählt heute neben seinem Lehrer und Alban Berg zum Kern der „Zweiten Wiener Schule“. Während sich Webern in den 1920er-Jahren Schönbergs Reihentechnik zuwandte und zwölftönig komponierte, entstand seine Passacaglia in d-Moll, das erste von dem damals 25-jährigen Webern mit einer Opuszahl versehene Werk, im Jahr 1908 als Abschlussstück der vierjährigen Lehrzeit bei Schönberg; er nannte es selbst sein „Gesellenstück“.
Besonders an der Passacaglia op. 1 ist zunächst ihre Länge. Mit einer Spieldauer von rund zehn Minuten mag sie auf den ersten Blick nicht allzu umfangreich erscheinen. Doch im Schaffen des später zum Meister der Kleinform avancierenden musikalischen Aphoristikers Webern ist es gar das längste Stück überhaupt. Formal greift Webern auf die strenge, barocke Form der Passacaglia zurück, die es ihm ermöglicht, die eigenen handwerklichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Das wiederkehrende Bass-Gerüst schreitet gleichmäßig dahin und bestimmt die Struktur der Komposition, ohne sich dem Hörer allzu offensichtlich aufzudrängen. Darüber entspinnen sich 23 Variationen, deren sich aus dem Haupt- und einem Gegenthema speisende melodische Ideen im Verlauf des Stücks jedoch zunehmend weniger fassbar werden. Mit seinem gewaltigen Orchesterapparat und chromatischen Passagen trägt die sich bisweilen dramatisch aufpeitschende Passacaglia unverkennbar spätromantische Züge und nimmt somit eine Scharnierstellung zwischen einer der Tradition verhafteten Vergangenheit und der modernen Zukunft ein. Von nun an löste sich Webern von der Tonalität, er komponierte atonal.
Obwohl von demselben Komponisten verfasst, könnte der Unterschied der Fünf Stücke für Orchester op. 10 (entstanden in den Jahren 1911 bis 1913) zur Passacaglia op. 1 kaum größer sein. Alles spätromantisch-ausladende Schwelgen in chromatisch erweiterter Harmonik – dahin. Eine neue Zeit ist angebrochen und ein mit Harmonium, Mandoline, Gitarre, Celesta und Glocken in seinen Farben erweitertes Kammerorchester tritt an die Stelle des großen, spätromantischen Orchesterapparates. Hier zeigt sich Webern als Meister der Miniaturen. In diesen Klangfarbenstudien geht es um Nuancen. Webern bringt musikalische Ideen in maximaler Verknappung auf den Punkt bzw. das Notenpapier, die Nummer 4 umfasst gerade einmal sechs Takte. Und auf die Frage, wie viel Musik in eine Minute passt, gibt der Komponist mit seinem op. 10 in puncto Gehalt und Dichte eine klare Antwort: sehr viel!
Er schleife „blitzende Diamanten, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte“, sagte Igor Strawinsky wunderbar bildlich über Weberns Art zu komponieren. Strawinsky und Webern verbindet, dass beide Komponisten, sich von der Tradition lösend, neue Wege einschlugen. Für Strawinsky führte dieser neue Weg allerdings nur am Rande zu Schönberg und dessen Zwölftontechnik, die Rhythmik spielte für ihn eine größere Rolle. Unter seinen bekanntesten Werken, den Balletten Der Feuervogel, Petruschka und Le sacre du printemps, nimmt letzteres eine Sonderstellung ein.
Der Impresario und Gründer der Ballet Russes Sergei Djagilew hatte Strawinsky mit dem Feuervogel, einer Auftragsarbeit, nach Paris geholt. Es war ein riesiger Erfolg, und Strawinskys Name in aller Munde. Mit dem radikal-modern in Szene gesetzten Ballett Le sacre du printemps („Die Frühlingsweihe“ oder „Das Frühlingsopfer“) war das Pariser Publikum jedoch überfordert. Schon vor der Premiere 29. Mai 1913 lag etwas in der Luft, der französische Schriftsteller Jean Cocteau sagte einen Skandal voraus – und er sollte Recht behalten. Die Uraufführung des Sacre zählt heute zu den bekanntesten Theaterskandalen des 20. Jahrhunderts. Über die Gründe wurde viel gemutmaßt, letztlich kamen wohl verschiedene Faktoren zusammen: Neben der perkussiven, mit Dissonanzen gespickten Musik nahm das Pariser Publikum, das zumindest in Teilen gefällige Unterhaltung erwartet hatte, Anstoß an der Choreografie von Vaslav Nijinsky, die mit bewusst primitiv gestalteten Kostümen und Stampfgesten eine neue Art des Tanzens auf die Bühne brachte.
Doch bei allen Pfiffen und allem Gemurmel, bei allem Gelächter und allen Zwischenrufen – die konzertante Version dieses rituellen Spiels um eine sich in den Tod tanzende Jungfrau war ausgesprochen erfolgreich. Strawinsky polarisierte, mit Ausschlägen nach oben und nach unten. Heute ruft diese ungemein starke Musik zwar keine Skandale mehr hervor, doch kann man ihre Wirkung auf die damalige Zuhörerschaft durchaus nachvollziehen. „Wird es lange so bleiben?“, fragte Djagilew den Komponisten, als er die Musik voller Dissonanzen und rhythmischer Verschiebungen, die bei aller Modernität auch aus der osteuropäischen Volksmusik inspirierte nationale Ideen enthält, zum ersten Mal hörte. „Bis zum Ende“, erwiderte Strawinsky. So schade es auch ist, dass diese Frühlingsmusik nun der Pandemie zum Opfer fallen muss – Jonathan Nott bleibt der Jungen Deutschen Philharmonie glücklicherweise erhalten, der Chefdirigent verlängerte seinen Vertrag jüngst bis 2024. Und der nächste Frühling kommt bestimmt, mit einem frischen Programm und hoffentlich mehr Gründen zum Feiern.
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Jesper Klein
Musikjournalist