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Himbeeren beginnen meist dann zu verderben, wenn man sie aus dem Supermarkt trägt, und ein neues Auto ist nur noch die Hälfte wert, sobald man den Schlüssel im Schloss dreht. Demgegenüber gibt es Musik, die immer neu und frisch ist. Das SAGENHAFTE Programm der Frühjahrstournee 2022 erzählt von ewigen Sehnsüchten der Menschheit. 

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Richard Wagner hatte seinen Lohengrin gerade beendet, da musste er aus Dresden fliehen. Denn wegen seiner Beteiligung am Dresdner Maiaufstand war er von der Polizei zur Fahndung ausgeschrieben worden: „37 bis 38 Jahre, mittlere Statur, braunes Haar, Brille“ – dem steckbrieflich gesuchten Revolutionär blieb nichts anderes übrig, als die Stadt zu verlassen. Mit gefälschten Papieren und ohne einen Plan für die Uraufführung seines Lohengrin floh er in die Schweiz. Auf einer Party in Zürich lernte er den reichen Kaufmann Otto Wesendonck kennen, der bereit war, ihn finanziell zu unterstützen. Die Fete muss legendär gewesen sein: Tanz, Musik, interessante Gäste und – oh ja – Drogen. Bei einem Gläschen Laudanum, dem Modegetränk der Zeit, das vor allem aus Opium bestand, klärte man die Details. Wesendoncks Gartenhaus wurde fortan zu Wagners „Asyl“, wie es der Komponist in Briefen bezeichnete. In Zürich inszenierte er sich als Popstar in Seidenunterwäsche. Nicht nur die ansässige Schickeria fand Gefallen an dem Komponisten, sondern auch Mathilde Wesendonck, die junge, schöne Frau von Otto. Sie wurde Wagners Muse – wahrscheinlich nur platonisch, aber vielleicht auch nicht nur platonisch ... Dieses Umfeld inspirierte Wagner jedenfalls zu seiner späteren Oper Tristan und Isolde. Das ist, zugegeben, eine andere Geschichte, die jedoch thematisch gar nicht so weit von unserem Konzertprogramm entfernt ist. Schließlich erinnert die Dreiecksgeschichte, die Arnold Schönberg in seiner Sinfonischen Dichtung Pelleas und Melisande vertont, an Wagners epochemachende Oper. Und sogar die Technik der Leitmotive wird Schönberg darin verwenden. Aber dazu später mehr. 
Wie ging es nun weiter mit dem aufführungsfertig in der Schublade liegenden Lohengrin? Auf Wagners Bitten gelang es schließlich Franz Liszt, die Oper 1850 im Großherzoglichen Hoftheater Weimar uraufzuführen. Dabei ließ Wagner Liszt keineswegs freie Hand – ein intensiver Briefwechsel zwischen den beiden belegt, dass der Opernschöpfer genaueste Instruktionen übermittelte. Er übersandte Regieanweisungen, Skizzen und Entwürfe und regte sogar den Bau spezieller Blasinstrumente an. Nur verständlich, dass Wagner bei der Uraufführung zu gerne dabei gewesen wäre. Tatsächlich hatte er das auch fest geplant: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wollte er die Grenzen passieren. Wer oder was auch immer ihn zur Vernunft brachte, ist nicht bekannt. Letztlich verbrachte er den Premierenabend frustriert mit seiner Frau Minna im – kein Scherz – Gasthof „Zum Schwan“ in Luzern. Erst viele Jahre später, am 15. Mai 1861, erlebte er zum ersten Mal eine komplette Vorstellung des Lohengrin in Wien. 
Die Oper spielt in Brabant in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Die literarische Vorlage geht auf Wolfram von Eschenbachs Versepos Parzival zurück. Gralsritter Lohengrin – der Sohn des Gralskönigs Parzival – wird Elsa, der Herzogin von Brabant, als Beschützer gesandt. Sein Fortbewegungsmittel in dieser Mission ist ein Boot, das von einem Schwan gezogen wird. Lohengrins Hilfe ist allerdings an eine Bedingung geknüpft: Niemals soll Elsa den Ritter nach seinem Namen fragen. Elsa hält sich jedoch nicht an das Gebot, und so muss Lohengrin sie verlassen.
Das Vorspiel beschrieb Wagner selbst als „wunderwirkende Darniederkunft des Grales im Geleite der Engelsschar“. Und tatsächlich erzielt der zart instrumentierte Streichersatz eine überirdische Wirkung. Silbriges Flirren breitet sich aus, bis die Musik in einem gewaltigen Höhepunkt gipfelt. Ein Superlativ wäre nicht genug, denn Wagners Komposition vermag bereits nach den ersten Takten in totale Verzückung zu versetzen.  

„Wie der Schweif eines Kometen“
Ein Solokonzert für Altsaxofon, ein Klavierkonzert, ein Violinkonzert und ein Cellokonzert hat der aus Finnland stammende Dirigent und Komponist Esa-Pekka Salonen bisher geschrieben. Die Zusammenarbeit mit Freunden bereite ihm große Freude – das sei der offensichtliche, einfache Grund, warum er seine Solokonzerte engen Freunden widme, so Salonen; aber es sei auch die Aura der Personen, die in die Werke einfließe und die Stücke schließlich lebendig mache. Mit dem Chicago Symphony Orchestra, dem New York Philharmonic, dem Barbican Centre und der Elbphilharmonie hatten sich gleich vier bedeutende Institutionen zusammengetan, um ein Cellokonzert bei Salonen in Auftrag zu geben. Uraufgeführt wurde das Werk unter der Leitung des Komponisten am 9. März 2017 mit dem Widmungsträger Yo-Yo Ma und dem Chicago Symphony Orchestra. Neben Yo-Yo Ma ist es aber auch der in Heidelberg geborene Cellist Nicolas Altstaedt, der sich das Konzert unmittelbar nach seiner Entstehung zu eigen machte und 2017 beim Helsinki Festival die finnische Premiere spielte. 
Der erste Satz des traditionell in drei Sätze (schnell – langsam – schnell) gegliederten Werks beginnt ad hoc. Es klingt ein wenig so, als hätte man das Stück nicht von vorne gestartet, sondern versehentlich in der Mitte des Satzes auf „Play“ gedrückt. Esa-Pekka Salonen nennt die Idee „Chaos to line“. Er verdichtet eine Vielzahl von musikalischen Gedanken zu einer sphärischen Melodie. Kurze Zeit darauf folgt der erste Einsatz des Solo-Cellos. Für Salonen stellt die Cello-Linie die Flugbahn eines sich bewegenden Objekts im Raum dar, das von anderen Melodie-Linien und Instrumenten verfolgt und nachgeahmt wird. „Ein bisschen wie der Schweif eines Kometen. Musikalisch gesehen könnte man es als Kanon bezeichnen, aber nicht ganz, denn die Nachahmung ist nicht immer wörtlich oder präzise“, so Salonen über den ersten Satz. 
Die Verwendung von Live-Elektronik macht den zweiten Satz besonders spannend. Während des Spiels werden Klangpassagen aufgenommen und anschließend als „Loops“ wiedergegeben. Neben der Flöte und den Becken ist es vor allem das Solo-Cello, das mehrfach „geloopt“ wird, sodass es in einen Dialog mit sich selbst tritt. „Man wird von seinem eigenen Echo inspiriert“, erklärt Nicolas Altstaedt. „So wird das Stück sehr lebhaft.“ Der zweite Satz endet mit einem gespenstischen Glissando. Wie schreiende Möwen, die hungrig über dem Meer kreisen, klingt die Passage, auf die eine nachdenkliche Episode im Cello folgt.
Ein rhythmisches Mantra in den Congas und Bongos bringt im dritten Satz überraschend Bewegung ins Spiel. Die Trommeln führen zu einer gänzlich neuen Charakteristik. Exzessiv und akrobatisch schnell entspinnt sich ein Dialog zwischen Cello, Streichern und Schlagwerk. Der Solist kann in diesem Satz sein gesamtes Können zur Schau stellen. Für Salonen hat das Cello wegen seines Tonumfangs und seiner dynamischen Möglichkeiten eine besonders starke Ausdruckskraft. Diese führt er nicht zuletzt auch auf die „menschliche Qualität des Klangs“ zurück. „Für viele ist es so, dass sie – selbst, wenn sie nur eine Note des Cellos gehört haben – das Gefühl bekommen, jemand würde zu ihnen sprechen.“

Schicksalhafte Begegnungen
Apropos Cello – es ist eine schicksalhafte Begegnung, die sich 1895 beim Wiener Laienorchester Polyhymnia ereignete: „An dem einzigen Cellopult saß ein junger Mann, der ebenso feurig wie falsch sein Instrument mißhandelte (das übrigens nichts Besseres verdiente – es war von seinem Spieler um sauer ersparte drei Gulden am sogenannten Tandelmarkt in Wien gekauft), und dieser Cellospieler war niemand anderer als Arnold Schönberg. Damals war Schönberg noch ein kleiner Bankbeamter, der aber von seinem Beruf nicht allzuviel Gebrauch machte und seinen Musiknoten den Noten in der Bank den Vorzug gab. So lernte ich Schönberg kennen und bald entwickelte sich aus der Bekanntschaft eine intime Freundschaft.“ Mit diesen Zeilen erinnerte sich der österreichische Komponist und Dirigent Alexander von Zemlinksy in seinen Schönberg zu Ehren verfassten „Jugenderinnerungen“ an die erste Begegnung. Zemlinsky hatte einige Proben des Amateurorchesters Polyhymnia betreut, in dem Schönberg als Cellist mitwirkte. Ab jetzt würden sich die beiden häufiger sehen. Zunächst nahm Schönberg einige Stunden Kompositionsunterricht bei Zemlinsky, der sich bereits im Wiener Musikleben verdient gemacht hatte und hohe Anerkennung genoss. Der Unterricht belief sich jedoch nur auf wenige Monate, was erklärt, warum Zemlinsky dieses kurze Lehrer-Schüler-Verhältnis nie hervorhob. Er war im Gegenteil stets davon überzeugt, dass Schönberg auch ohne Unterstützung sein großes Talent in eine vielversprechende Karriere übersetzt hätte. Schönberg seinerseits hielt später fest, dass er seine Kompositionstechniken Zemlinsky verdanke. 
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte sich in Wien die junge Komponistengeneration um Alexander von Zemlinsky und Arnold Schönberg neu zu positionieren. Während in der bildenden Kunst bereits 1897 die Wiener Secession zum Symbol eines neuen Kunstwillens avancierte, orientierte sich die Musikwelt noch immer an klassizistisch geprägten Strukturen. In der musikalischen Tradition von Mozart, Beethoven und Brahms verhaftet, wussten die führenden Institutionen ihre Aufgabe vor allem im Konservieren dieser etablierten Denkmäler wahrzunehmen. Als Reaktion auf jenes restaurative Bild wurde 1904 die „Vereinigung schaffender Tonkünstler“ Wien aus der Taufe gehoben. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Arnold Schönberg und auch Alexander von Zemlinsky. In einem Manifest hatten sie bereits im Mai 1903 ihre Ziele publiziert. Vor allem wollten sie eine „ständige Pflegestätte für Novitäten“ schaffen. Damit war Arnold Schönberg in seinem Element: Als leidenschaftlicher Pädagoge setzte er sich mit Inbrunst dafür ein, dass Neue Musik vom Publikum verstanden und geschätzt wird. Er wollte sein Publikum systematisch erziehen, damit es die Neue Musik lieben lernt. Mittels ausreichender Vermittlung und vor allem durch die regelmäßige Konfrontation mit zeitgenössischen Kompositionen wollte er die Hörgewohnheiten durchbrechen. „Neue Werke“, die auf die Konzertpodien gelangten, sollten nicht länger als „Kuriositäten“ gehandelt werden, die lediglich dem Zweck dienten, die Bedeutung der klassischen, als erhaben geltenden Kompositionen weiter zu legitimieren. Dass die Gründung der Vereinigung zeitlich mit der Fertigstellung zweier Sinfonischer Dichtungen zusammenfiel, die just von den Gründungsmitgliedern Schönberg und Zemlinsky stammten, war sicher kein Zufall. 
Arnold Schönbergs Sinfonische Dichtung Pelleas und Melisande durchlebt die wichtigsten Stationen der literarischen Vorlage: Im Wald begegnet Golo der geheimnisvollen Melisande. Kurzerhand nimmt er sie mit auf sein Schloss und heiratet sie. Doch dann fangen die Probleme auch schon an, denn Melisande verliebt sich ausgerechnet in Golos Bruder Pelleas. Aus Eifersucht bringt Golo seinen Bruder um, und schließlich stirbt auch die schwangere Melisande. Schönberg erschuf eine brillant orchestrierte Mixtur aus Pathos und Zerfall und bediente sich der beiden wichtigsten Kompositionstechniken der Zeit: Wagners Leitmotivik und Brahms’ Idee der „entwickelnden Variation“. Im opulenten Stil der Spätromantik spielt die Sinfonische Dichtung, was die Besetzungsgröße betrifft, in der Liga von Strauss’ Alpensinfonie und Skrjabins Poème de l’Extase. Und obwohl das Wiener Uraufführungspublikum den Wohlklang vermisste, muss man doch eindeutig feststellen, dass Schönbergs Werk es auf eindrucksvolle Weise vermag, alle Höhen und Untiefen des Menschseins festzuhalten. Gäbe es eine Kategorie „Musik zum Verschlingen“, gehörte diese Sinfonische Dichtung definitiv dazu. 

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Judith Schor
Konzertdramaturgin

Weitere Infos zur Frühjahrstournee SAGENHAFT: https://www.jdph.de/de/veranstaltungen/orchester-konzerte/965-sagenhaft 

Foto: Marco Borggreve