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„Opern sind die unbedenklichste Form der Unterhaltung.“ Mit Parolen wie dieser riefen im Jahre 1719 adlige Enthusiasten dazu auf, am Londoner Haymarket ein Opernunternehmen zu gründen. Die Investoren wollten sich amüsieren, der Hauptstadt prachtvolle Spektakel ermöglichen und nicht zuletzt dem seit 1710 in England lebenden Georg Friedrich Händel eine musikalische Heimat bieten. Sie sammelten zehntausend Pfund ein, versprachen den Aktionären stolze 25 Prozent Rendite, der König steuerte seinen Titel bei – fertig war die „Royal Academy of Music“. Goldgräberstimmung an der Themse, die Spekulationen schossen, wenige Jahre nach Beendigung des spanischen Erbfolgekrieges, wahrlich ins Kraut. Bereits 1728 war das Unternehmen pleite. Die Musikgeschichte jedoch freut sich über ein gutes Dutzend Opern aus Händels Werkstatt, und das zahlungskräftige Publikum hatte sich immerhin ein paar Jahre gute, aber keineswegs harmlose Unterhaltung erkauft.

Die zeitgenössische italienische Oper war auf der Insel keine unumstrittene Kunst. Starre Formen und die endlose Kette von Rezitativen und Da-Capo-Arien langweilten die Briten. Sie waren abwechslungsreiche Maskenspiele und Semi-Operas gewohnt, Stücke also für Schauspieler und Sänger in englischer Sprache. Italienisch verstand kaum jemand, auch wenn die Musikfreunde die ungleich besser ausgebildeten Sänger vom Kontinent bewunderten: „Die Oper in Italien ist zwar ein Ungeheuer, jedoch ein wunderschön harmonisches; hier in England hingegen ist sie ein hässliches, heulendes Ungeheuer“, schrieb der Kritiker John Dennis im Jahre 1706. Was lag da näher, als die Stars der Zunft nach England zu holen? Es ist sicher nicht verkehrt, die Oper von damals mit dem Fußball von heute zu vergleichen. Die Investoren schickten Händel also auf Einkaufstour; in Dresden etwa stand der berühmte Francesco Bernardi unter Vertrag, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Senesino. Für 2.000 Pfund Gage wechselte der Kastrat 1720 tatsächlich an die Themse. Eine ungeheure Summe, in Höhe von einem Fünftel des Aktienkapitals und, in moderner Währung, mehr als 500.000 Euro. Pro Jahr!

Für Senesino schrieb Händel alle männlichen Hauptpartien seiner Londoner Opern. Die „durchdringende, helle, egale und angenehm tiefe Sopranstimme“ (Johann Joachim Quantz) polarisierte die Londoner, und das diente vorteilhaft dem Erfolg. Die Koloraturen, berichtet Quantz weiter, wusste Senesino „mit der Brust, in einer ziemlichen Geschwindigkeit, auf eine angenehme Art herauszustoßen“; dagegen nörgelte der neapolitanische Impresario Francesco Zambettari, der Kastrat stehe herum wie eine Statue, und in den Rezitativen sei sein Ausdruck entsetzlich. Wie dem auch sei – Händel und die Investoren gaben sich noch nicht zufrieden. 1723 stieß die in Italien, Wien und Dresden gefeierte Sopranistin Francesca Cuzzoni für anfänglich 1.500 Pfund (ebenfalls pro Jahr) zum Ensemble der Royal Academy. Drei Jahre später leisteten die Londoner sich die noch berühmtere und noch teurere (2.500 Pfund Gage – pro Jahr!) Faustina Bordoni. „In gewisser Weise erfand sie eine neue Form des Gesangs“, berichtet Charles Burney, „indem sie Rouladen mit einer Präzision und Geschwindigkeit ausführte, welche jeden erstaunte … Sie beherrscht die Kunst, den Ton für die Ohren der Zuhörer länger anzuhalten als jeder andere Sänger, indem sie unmerklich atmete.“  

Über die nötige Robustheit im Umgang mit den drei eifersüchtigen Stars verfügte Händel durchaus. Burney überliefert, wie der Komponist der Cuzzoni androhte, sie aus dem Fenster zu werfen, wenn sie sich weigere, seine Musik nach seinem Gusto zu singen. Ein anderer aus dem Publikum bewunderte die Sopranistin dagegen: „Verfluchtes Weib! Sie hat ein ganzes Nachtigallennest im Leib!“ 

Wie nun umgehen mit dieser Situation? „Die drei Hauptpersonen der Handlung sollen jeweils fünf Arien singen, zwei im ersten Akt, zwei im zweiten und eine im dritten“, empfahl der venezianische Komödiendichter Carlo Goldoni. „Die zweite Schauspielerin und die zweite Sopranistin dürfen nur drei haben, und die Nebenrollen müssen auch sich mit einer einzigen Arie, oder höchstens zwei, begnügen.“ Für den Wechsel der Gemütszustände und Affekte hatte vor allem der Librettist zu sorgen, im Falle der Oper #Alessandro# Paolo Rolli, der von Händel nicht geliebte Hauspoet der Royal Academy. 

Händel schrieb für die Titelfigur Alessandro / Senesino acht Arien, für Rossane / Bordoni und Lisaura / Cuzzoni je sechs. Außerdem zwei heikle Duette. Und das alles in Windeseile. Die siebte und vorletzte Spielzeit im King’s Theater brachte am 8. Februar 1726 die Wiederaufnahme und bis zum 9. März neun weitere Aufführungen des drei Jahre zuvor entstandenen „Ottone“. Ab dem 12. März folgten Premiere und 13 Aufführungen (bis 30. April) von „Scipione“, am 5. Mai schließlich die Premiere des „Alessandro“ mit 14 weiteren Aufführungen bis zum 7. Juni. Das künstlerische Kalkül mit den Stars auf der Bühne ging also auf. 

Aus dieser Konstellation ergibt sich die Handlung der Oper #Alessandro# fast von selbst. Zwei Frauen lieben denselben Helden; Alessandro, der den öffentlichen Ruhm genießt, kann sich im Privatleben nicht entscheiden, und er muss Nebenbuhler fürchten. Das Publikum freut sich auf den Klang des üppigen Orchesters; rund zwanzig Geigen und Bratschen, vier Oboen, drei Fagotte und andere produzieren „einen rechten Lärm“, wie ein französischer Besucher festhielt. Händels Musik verspricht Schönheit und Kurzweil und ein Happy End. Der dreistündige Weg dorthin freilich ist tückisch und reich an Windungen und Wendungen. 

Zunächst erleben wir, nach der Ouvertüre, den Titelhelden, König von Mazedonien und selbsternannter Sohn des Göttervaters Jupiter, in der Attacke auf die Stadt Oxydraka irgendwo in Indien. Eine spektakuläre „Battaglia“ (Nr. 5) beschreibt den Kampf. Die Offiziere Leonato, Cleone und Clito rühmen den Schneid ihres Anführers und warnen zugleich vor zu viel Übermut (Nr. 6). Unbekümmert und koloraturenreich vertraut Alessandro auf das Glück des Starken (Nr. 7). 

Im Feldlager indes belauern sich die beiden Frauen. Wie süß wäre die Liebe ohne Eifersucht, seufzt Lisaura (Nr. 10), während Rossane sich über Amors Pfeile erregt: Rauben sie nicht dem, der sie trifft, die Freiheit (Nr. 12)? Auch Tassile, der indische König, der ein Auge auf Lisaura geworfen hat, ist hin- und hergerissen: Alessandro schenkt ihm ein Reich und raubt ihm zugleich das Herz (Nr. 14). Der Feldherr genießt inzwischen den Sieg, wendet sich den beiden Frauen zu – und lässt beide im Ungewissen. Wut, Bedauern und Verzweiflung sind die Folge. 

Nun sind die drei Offiziere wieder an der Reihe. Cleone bekennt, Rossane zu lieben, und bedauert, dass nur die strahlenden Helden die Götter dieser Welt sind (Nr. 23). Leonato hingegen gibt loyal den tugendhaften Freund (Nr. 24), während Clito sich stolz weigert, Alessandro mehr als notwendig zu verehren (Nr. 25). Der erste Akt schließt mit der Huldigungszeremonie im Jupiter-Tempel; Clito fällt in Ungnade, während die beiden Damen zu vermitteln versuchen. Eine heikle Mission auch für den Komponisten: Er muss hier seine beiden weiblichen Stars in einem Duett („Placa l’alma, quieta il petto“, Nr. 31) zusammenbringen und darf doch keine von ihnen bevorzugen! Die Musik erinnert an das Orgelkonzert op. 7 Nr. 4 – möglich, dass Händel und sein Orchester dieses Stück während der nun folgenden Pause vortrugen.

Der zweite Akt verhandelt (bis Nr. 47) viele Aspekte des Liebeskonflikts zwischen Alessandro und Tassile, Lisaura und Rossane. Viel Gefühl, gewolltes Missverstehen, Handeln gegen das Herz und die Moral feuern auch den Komponisten an; Händel entfaltet seine Kunst, scheinbar mühelos aus wenigen Tönen und kleinen Tonschritten Motive, Melodien und Affekte zu erfinden; dazu nutzt er meisterhaft die Klangfarben der in seinem Orchester vorhandenen Instrumente. Schließlich bittet Rossane Alessandro, sie freizugeben; diese Arie (Nr. 43) gehört zu den wunderbarsten Eingebungen Händels in dieser Oper: Eine Traversflöte übernimmt die Partie des Singvogels, von dem im Text die Rede ist. In der folgenden Nummer (45) entsagt Alessandro mit wütenden Koloraturen der Liebe, bevor Lisaura (Nr. 47) sich mit einem getäuschten Rehkitz vergleicht, sekundiert von hüpfenden Figuren in Oboe und Fagott. Zum Schluss verteilt Alessandro die eroberten Gebiete; Clito bietet ihm die Stirn, die unterworfenen Völker begehren auf, Alessandro nimmt den Kampf wieder auf (Nr. 51), und Rossane ist wild entschlossen, den Helden unter allen Umständen zu lieben (Nr. 53).

Der dritte Akt lässt zunächst noch einmal die Offiziere vortragen, wie viel ihnen Ehre und Ehrlichkeit (Clito, Nr. 54) oder aber Treue und Loyalität zum Befehlshaber bedeuten (Cleone, Nr. 56). Noch einmal lässt Händel nun seine beiden Sopran-Stars wetteifern; empfindsam, mit waghalsigen Sprüngen und virtuosen Koloraturen beteuert Lisaura (Nr. 58), ihrem Herzen folgen zu wollen, und Rossane besingt siegesgewiss (Nr. 60) süße, nie gekannte Zufriedenheit. Alessandro empfiehlt Lisaura dem getreuen Tassile, Rossane erwartet sehnsüchtig das Ende des Feldzugs. Schließlich lässt der Feldherr Milde walten und vergibt allen seinen Kritikern (Nr. 69). Ein finales Duett Lisauras und Rossanes, sorgfältig Ton gegen Ton im Terzabstand gesetzt, signalisiert Frieden. Liebe und Treue halten sich die Waage. 

Das Publikum bejubelte seine Stars. Aber nicht alle die gleichen: „Wenn die Anhänger der einen anfingen zu klatschen, [pflegten] die Anhänger der anderen unfehlbar zu zischen“ (Burney). Sogar Katzenrufe und Raufereien auf offener Bühne waren an der Tagesordnung. Harmlose Unterhaltung? Der Zickenkrieg zwischen Senesino, Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni wird schon in der Garderobe wieder aufgeflammt sein!

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Dr. Andreas Bomba, Musikjournalist

ALESSANDRO
Herbst 2022

DIRIGENT
Gottfried von der Goltz

SOLIST*INNEN
Studierende deutschsprachiger Musikhochschulen, Gesang
Alexander von Heißen, Cembalo
Daniel Seniuk, Erzähler

REGIE
Sibylle Broll-Pape

BÜHNENBILD & KOSTÜM
Trixy Royeck

PROGRAMM
Georg Friedrich Händel (1685–1759): Alessandro

KONZERTE
DO 29.09.2022 / 19.30 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater (Premiere)
FR 30.09.2022 / 19.30 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater
SO 02.10.2022 / 19.00 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater
DI 04.10.2022 / 19.30 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater
MI 05.10.2022 / 19.30 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater
FR 07.10.2022 / 19.30 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater
SA 08.10.2022 / 19.30 Uhr Bamberg, ETA Hoffmann Theater

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