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2023 widmet sich die Junge Deutsche Philharmonie dem Schaffen György Ligetis, eines der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Vor 100 Jahren wurde er in Siebenbürgen geboren. So wird bei den Neujahrskonzerten im BASF-Feierabendhaus und in der Alten Oper Frankfurt sein Concert Românesc erklingen – in einem Programm, in dem es um die musikalische Wurzelsuche geht.

György Ligeti war: Klangraumkomponist; Meister der Mikropolyphonie; Illusionsrhythmiker; alles in allem einer der wichtigsten komponierenden Köpfe der Neuen Musik. Und auch in cinephilen Kreisen ungewollt ein großer Name, hat doch Stanley Kubrick sein Riesenwerk Atmosphères sowie das Chorstücks Lux aeterna für den Kino-Meilenstein 2001: Odyssee im Weltraum verwendet, ohne den Komponisten vorher zu fragen. Was war György Ligeti noch? Ein homo politicus, der jede Art von Diktatur hasste, ein Exil-Künstler, der aus seiner Heimat fliehen musste, ein Kommunikator ersten Grades, der bestens parlieren konnte über seine Musik. Und beredt schweigen, wie etwa 1961, als er einen Vortrag zum Thema „Die Zukunft der Musik“ hielt – eben schweigend. 

Was war er noch? Ein von außereuropäischen Musikkulturen Begeisterter, wenn er „die akustisch-motorischen Genüsse“ feierte, die die Musik vieler afrikanischer Kulturen südlich der Sahara bereithalten. Was manchen überraschen mag: György Ligetis früheste Berufsbeschreibung war in der Tat „Musikethnologe“. 1949/50 studierte er am Folklore-Institut in Bukarest und nahm an mehreren Reisen zum Aufzeichnen von rumänischer, aber auch von ungarischer Volksmusik teil. Schaut man sich heute auf Google Maps an, wo der 27-Jährige da forschend unterwegs war – er selbst nennt Orte wie „Covasint, die Region Arad und in Inaktelke im Kalotaszeg-Gebiet, nahe Klausenburg“ – kann man feststellen: Es war die Umgebung seiner Siebenbürger Heimat. In Klausenburg, heute Cluj-Napoca, ist Ligeti aufgewachsen, bis Arad sind es 300 Kilometer. 

Somit dürfte in seinen Ohren das Concert Românesc nicht eben exotisch klingen. Denn dieses 1951 entstandene Werk war das direkte Ergebnis seiner musikethnologischen Studien. Und es spiegele seine „tiefe Liebe zur rumänischen Volksmusik und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin wider“, so der Komponist. Es basiert auf einer Vielzahl rumänischer Volksmelodien, die er selbst aufgezeichnet habe oder die von Wachsrollen und Schallplatten aus dem Bukarester Folklore-Institut stammten. Zudem habe er „die gängigen harmonischen Wendungen der rumänischen Bauernmusik kennengelernt, die ich stilisiert verwendet habe.“ In strukturell denkbar einfacher Musik konnte er, der höchst komplexe Großpartituren verfertigte, etwas überaus Wertvolles sehen. Den Reiz des Simplen sollte er sein Leben lang schätzen, ohne dass er je ein Simplifizierer wurde. „Einige Ländler von Schubert sind so einfach, achttaktig, sechzehntaktig, symmetrisch, fast ohne Modulationen – trotzdem sind sie höchste Kunst. Ist also Komplexität ein Wert an sich, oder ist Einfachheit ein Wert an sich?“ 

Damit stieß Ligeti in exakt das gleiche Horn wie knapp ein halbes Jahrhundert vor ihm Béla Bartók, der sagte: „Eine echte ländliche Bauern-Melodie ist ein musikalisches Beispiel der perfekten Kunst. Ich betrachte sie ebenso als Meisterwerk wie eine Fuge von Bach oder eine Sonate von Mozart.“ Derselbe Gedanke, die gleichen Fußstapfen: Béla Bartók und Zoltán Kodály hießen jene Volksliedforscher, die ab 1904 als allererste Musikethnologen durch Ungarn zogen, um das aufzuzeichnen, was wirklich vom Volk gesungen und gespielt wurde. Nicht dass zu wenig Volksmusik im Umlauf gewesen war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – aber es war eben nur eine erfundene. Ein Franz Liszt, der sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als „allein und zu Fuß mit dem Bündel auf dem Rücken die einsamsten Gegenden Ungarns aufzusuchen“, um seine Sammlung ungarischer Volksmusik zu erweitern, war dafür ebenso verantwortlich zu machen wie ein Johannes Brahms, der seine „Ungarischen Tänze“  für „echte Pußta- und Zigeunerkinder“ hielt. Dass er oft genug jene von Liebhaber-Komponisten aus dem Bürgertum und niederen Adel neu komponierten volkstümlichen Kunstmusiken mit dem Erbe seines Landes verwechselte, kam Liszt nicht in den Sinn.

Bartók und Kodály dagegen traten an, diese Irrtümer zu beseitigen, und zwar weniger von romantischem Idealismus angetrieben, als vielmehr von echtem wissenschaftlichem Ehrgeiz getragen. Die beiden ungarischen Komponisten reisten zum Teil gemeinsam über die Dörfer, besuchten jeden noch so abgelegenen Distrikt und ließen sich dort die traditionellen Lieder vorsingen, notierten diese oder nahmen sie auf Wachsrollen auf. Im Laufe der Jahre baute Zoltán Kodály ein privates Archiv mit tausenden ungarischen Liedmelodien auf, die er als Grundstock verstand für sein großes kompositorisches Ziel: eine eigenständige ungarische Kunstmusik zu schaffen aus dem Geist der Volksmusik. Die Wege von Kodály und Bartók führten dabei vielfach parallel, oft aber gingen die beiden mit dem vorgefundenen Material auch gänzlich unterschiedlich um. Bartók jedenfalls fand dies nur natürlich, als er betonte, dass „die Bauernmusik für das musikalische Kunstwerk die verschiedensten Möglichkeiten erschließt und ihre Zugrundelegung keineswegs zu identischen Ergebnissen führen muss. […] Wir haben – obwohl nach gemeinsamen Quellen – jeweils einen individuellen Stil entwickelt. Wenn man mich fragt, in welchen Werken der ungarische Geist seinen vollkommensten Ausdruck findet, so kann ich darauf nur antworten: in den Werken Kodálys.“ 

Béla Bartók wurde mit seiner Emigration 1940 in die USA von seinen Wurzeln abgeschnitten. Seine Pianistenlaufbahn hatte er dort nach und nach abebben lassen, von den Orchestern fühlte er sich boykottiert, das Komponieren hatte er mangels Nachfrage quasi aufgegeben. Finanziell saß er auf dem Trockenen, er drohte darüber depressiv zu werden. Er lebte von kleineren musikethnologischen Aufträgen der Columbia-Universität. Und er war krank geworden, sehr krank: Was als fiebrige Grippe begann, stellte sich als unheilbare Leukämie heraus, an der er letztlich auch sterben sollte. Über befreundete Musiker, die um seine Situation wussten, bekam er einen Auftrag, es sollte sein Konzert für Orchester werden, heute Bartóks meistgespieltes Orchesterwerk und eines der wichtigsten des 20. Jahrhunderts. Ein kurzes Aufflackern der Lebens- und Schaffenskraft nur – Béla Bartók starb am 26. September 1945 in New York an den Folgen des Blutkrebses.

„Die allgemeine Stimmung der Komposition kann – mit Ausnahme des spaßigen zweiten Satzes – als ein schrittweiser Übergang vom Ernst des ersten Satzes und dem Klagelied des dritten zur Lebensbejahung des Schlusssatzes angesehen werden“, so ordnete Béla Bartók sein Meisterwerk ein. Der bedeutende Bartók-Forscher György Kroó nannte das Werk dann auch zusammenfassend ein „Fresco des Lebens“. Formal könnte es sich hier um eine fünfsätzige Sinfonie handeln, bis auf die Anzahl der Sätze ganz klassisch gehalten, doch es ist eben ein „Konzert“, nicht für Solisten, sondern „für Orchester“. Paul Hindemith hatte etliche Jahre zuvor bereits diesen irritierenden Titel verwendet – irritierend deswegen, weil ein „Konzert“ eigentlich ein oder mehrere Soloinstrumente voraussetzt. Hier aber sind die Tutti der Solist, das Orchester steht mit seiner Virtuosität im Rampenlicht. Wir haben es hier also mit einer Neuinterpretation des barocken Concerto grosso zu tun im Großformat des 20. Jahrhunderts. Und mit einem „charakteristischen Werk der letzten Stilperiode“ Bartóks, so wiederum György Kroó, das dafür typisch „eine erhöhte Zahl von bildhaften Elementen“ aufweise, „dazu eine große Vereinfachung und Plastizität der Sprache, vor allem aber eine fast klassische, übersehbare Tonalität und liedhafte, selbst für an romantische Musik gewöhnte Ohren sofort erfassbare Melodik.“

Anders als Bartók, Kodály und Ligeti war der Italiener Luciano Berio offiziell nie ein Musikethnologe. Umso mehr aber einer, der sich aus verschiedensten Quellen bediente, der zitierte, collagierte, andere Werke dekonstruierte (oder auch komplettierte, wie Puccinis Fragment gebliebene Oper Turandot). In jenem Jahr 1950, in dem György Ligeti die rumänischen Bauerndörfer bereiste, heiratete im mondänen Mailand der frisch diplomierte Gesangsklassen-Klavierbegleiter Berio die Mezzosopranistin Cathy Berberian. Die Ehe wurde zwar 1964 geschieden, doch wenige Monate zuvor komponierte Berio in den USA für sie noch elf Folk Songs, basierend auf Liedern aus verschiedenen Ländern: darunter zwei Songs aus Berberians US-amerikanischer Heimat, eine armenische Ode, ein sizilianisches Gebet, ein sardisches Klagelied, Lieder im genuesischen Dialekt und auf Okzitanisch. Und eine Romanze aus Aserbaidschan – die Sängerin hatte sie auf einer Schellackplatte entdeckt, den Text mussten sie nach dem Gehör transkribieren, ohne ihn je zu verstehen. Diese Quellen habe Berio „rhythmisch, metrisch und harmonisch neu interpretiert“, wie er sagte, er spricht von einem Akt des „Rekomponierens“ oder auch von „komponierten Analysen“ des Ausgangsmaterials. 

Bei Volksliedern mit Klavierbegleitung habe er immer „ein tiefes Unbehagen verspürt“, den Verlust einer Bedeutungsebene. Darum sollten seine Folk Songs eine Instrumentalbegleitung bekommen: „Die Instrumente haben die Aufgabe, das heraufzubeschwören, was ich für die expressiven und damit kulturellen Wurzeln jedes Lieds ansah – und das zu kommentieren. Diese Wurzeln haben nicht nur mit den Ursprüngen der Lieder zu tun, sondern auch mit der Geschichte der Verwendung, der sie zugeführt wurden, wenn ihr Sinn nicht zerstört oder verfälscht werden sollte.“ Auch das ist quasi Musikethnologie, eine, die Hintergründe freilegt. 

Nicht nur freilegen, auch etwas verstecken wollte György Ligeti übrigens in seinem Concert Românesc, er nannte es ein „Camouflage-Stück“ – mit dem er dem offiziell diktierten Komponierstil seiner stalinistisch regierten ungarischen Heimat entgehen zu können glaubte. Was allerdings nicht gelang, erst 1971 konnte das Werk uraufgeführt werden. Denn: „Obwohl einigermaßen konform, entpuppte sich das Stück als ‘politically incorrect’ infolge einiger verbotener Dissonanzen (z. B. fis innerhalb von B-Dur)“, erklärte Ligeti im Rückblick. „Für den heutigen Hörer ist es kaum nachvollziehbar, dass solche milden tonalen Scherze als staatsgefährdend deklariert wurden.“

*** 

Stefan Schickhaus, Musikjournalist

 

URSPRUNG
Neujahrskonzerte 2023

DIRIGENT
Sir Mark Elder

SOLISTIN
Fleur Barron, Mezzosopran 

PROGRAMM
Zoltán Kodály (1882–1967): Tänze aus Galanta 
Luciano Berio (1925–2003): Folk Songs für Mezzosopran und Orchester
György Ligeti (1923–2006): Concert Românesc (1951) 
Béla Bartók (1881–1945): Konzert für Orchester

KONZERTE
SA 07.01.2023 / 20.00 Uhr      Ludwigshafen, BASF-Feierabendhaus
SO 08.01.2023 / 18.00 Uhr      Alte Oper Frankfurt

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