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Mittag in der Kölner Philharmonie. Die öffentliche Probe mit dem WDR Sinfonieorchester, die „Philharmonic Lunch“ heißt, war erstaunlich gut besucht, Kristjan Järvi hat Gershwins „Rhapsody in Blue" geprobt. Vor dem Dirigentenzimmer warten Leute, alle wollen kurz etwas mit ihm besprechen. Nein, sagt Kristjan Järvi, er sei nicht müde, er sehe nur so aus, vorübergehend. Wenige Sätze und Scherze später hat er sich wieder hellwach gelacht, strahlt, grübelt, breitet die Arme aus, hört zu, spricht gestenreich und engagiert. Sprache ist nicht sein einziges Mittel, sich verständlich zu machen. Alles an ihm ist in ständigem Kontakt mit allen anderen im Raum. Und immer geht es um Musik.

Haben Sie Messiaens Turangalîla-Sinfonie, dieses Anderthalb-Stunden-Werk, schon einmal dirigiert?

-Nein, aber die Länge an sich ist kein Problem. Bei Messiaen hat man es mit ganz anderen Ressourcen und Anforderungen zu tun. Man kommt ständig in die Situation, dass man sich einen Teil erarbeitet hat und dann vor dem Problem steht, wie man diesen Teil mit dem Ganzen verbindet. Ich freue mich sehr auf diese Arbeit.

Eine Herausforderung?

-Nicht mehr als sonst. Wenn man eine bestimmte Schwelle hinter sich gelassen hat, ist alles gleich schwierig oder eben gar nicht mehr. Natürlich ist ein Stück wie die Turangalîla-Sinfonie eine Herausforderung, aber es gibt viele Herausforderungen, denen man sich stellen muss. Am besten ist, man freut sich auf sie und macht aus ihnen einen nächsten Schritt der eigenen Entwicklung. Amériques von Varèse zu dirigieren wäre auch so eine Herausforderung.

Ist Varèse für Sie eine ähnliche Figur in der Musikgeschichte wie Messiaen?

-Sie unterscheiden sich in konzeptioneller Hinsicht sehr voneinander. Messiaen ist von seiner Gesinnung her spiritueller, Varèses Musik kommt mir eher zerebral vor, obwohl sie auch enorm musikalisch ist. Wenn man meint, ihr mit Genauigkeit allein beikommen zu können, wird man enttäuscht sein. Genauigkeit ist unentbehrlich, aber sie ist nicht alles, und sie ist nicht der einzige Weg zum Geist der Musik.

Der Geist der Musik, das Spirituelle ist für Sie eine zentrale Kategorie der Interpretation?

-Die emotionale Dimension ist das wichtigste Element der Musik. Darüber tritt man mit dem Publikum in Verbindung. Da liegt die Botschaft, die man als Musiker übermitteln kann.

Die Sie also zunächst an das Orchester vermitteln müssen.

-Das ist das Allererste. Wenn man dem Orchester die Emotion der Musik vermitteln konnte, kann diese Botschaft auch beim Publikum ankommen. Es gibt immer Leute, die Einwände erheben, etwa, dass etwas ganz anders notiert ist. Aber man kann, denke ich, als Komponist nicht alles aufschreiben. Also muss ein Dirigent suchen, was sozusagen zwischen den Notenlinien steht und was ein Anliegen des Komponisten gewesen sein könnte. Es gibt immer mehrere Arten, Musik zu verstehen und zu spielen. Als Dirigent muss ich versuchen, meine eigene Interpretation dem Orchester und dem Publikum nahe zu bringen.

Wie reden Sie beim Proben mit den Musikern über die emotionalen Aspekte?

-Man muss möglichst viel über die Musik wissen und über den Komponisten. Manche meinen, dass ein Dirigent dem Komponisten dienen sollte. Ich denke, das ist nur zum Teil richtig. Unsere Aufgabe ist vielmehr, der Musik zu dienen. Wenn wir es schaffen, mit der Musik eine Botschaft zu verbinden und das in der Interpretation erkennbar zu machen, dann haben wir der Musik am besten gedient. Das wäre mein Ziel auch bei diesem Stück, von dem ja jeder weiß, dass es ein monumentales Meisterstück ist.

Besteht in dem Motiv der Religiosität eine Verbindung zwischen Messiaen und Ihrem Landsmann Arvo Pärt?

-Pärt hat nicht diese Monumentalität, aber in geistiger Hinsicht gibt es sicher Verwandtschaften. Allerdings hat Messiaens Musik viele Elemente, die nur deshalb darin vorkommen, weil er Franzose ist. Auch wenn Sie meinen, das sei nicht ganz das angemessene Wort dafür: Es gibt bei Messiaen Elemente, die ich „crazy“ nennen würde – diese unglaubliche Freude, die darin manchmal spürbar ist, und diese unglaublichen Instrumentierungen.

Finden Sie Messiaens Musik katholisch?

-Man muss durch viel Schmerz gehen und Leid und Mühe auf sich nehmen, um am Ende etwas davon zu haben. Die Musik nötigt einem eine Art Kampf auf. Man muss sich um die strahlenden Stellen darin wirklich bemühen. Dann wird man allerdings auch reich belohnt, manchmal wirklich wie emporgehoben. Man erreicht eine Art Hochebene, wo man eine große Freiheit spüren kann – und dann geht es wieder abwärts.

Sie haben in Frankfurt vor zwei Jahren das HR-Sinfonieorchester dirigiert, unter anderem mit Strawinskys Pulcinella. In einem Jugendkonzert in der Alten Oper saß ein Publikum aus Frankfurter Schülern, das sich nicht so benahm wie ein klassisches deutsches Konzertpublikum. Sie mochten die Musik, aber sie flüsterten und sie klatschten an falschen Stellen. Man hatte aber nicht den Eindruck, dass Sie das störte.

-Es hat mich auch nicht gestört. Sehen Sie, es gab eine Zeit, da saß das Publikum nicht reglos im Konzertsaal und das Orchester auf der Bühne, sondern das Orchester war räumlich und in der Wahrnehmung an die Seite gerückt, und die Leute kommunizierten miteinander. Ich finde nicht unbedingt, dass das bessere Zeiten für die Musik waren. Dass sich die Konzertkultur so entwickelt hat, wie sie heute ist, hat verschiedene Gründe, aber man sollte doch nicht vergessen, dass die Musik auch immer Teil eines sozialen Ereignisses ist. Das wird im Konzertsaal eher ignoriert. Gerade jungen Leuten aber kann man nicht einfach sagen, sie sollten Ruhe halten und zuhören. Wenn sie etwas mögen oder schlecht finden, flüstern sie ihrem Nachbarn etwas zu, ohne dass sie den Respekt für die Situation verlieren, aber schon wird rundherum gezischt, weil Leute sich gestört fühlen. Diese absolute Ruhe im Konzert ist keine normale Verhaltensweise.
Die Verhaltensnormen im europäischen Konzertsaal haben sich vor 130 Jahren geformt und sind wie in einer schwarzweißen Plattenfotografie konserviert worden.
Aber alles verändert sich. Wir sollten versuchen, im Konzert eine Atmosphäre der Offenheit zu schaffen. Das ist auch eine Frage der Zukunft der Musik. In Deutschland sind die Konzertsäle immer noch voll, aber man sollte mit Veränderungen nicht warten, bis eine Lücke entstanden ist. Generationenwechsel erfordern auch Veränderungen von Verhaltensweisen. Wenn die Konzertsäle sich erst einmal geleert haben wie in Amerika, in England, in Italien, ist es zu spät. Dann hat man eine Gelegenheit verpasst, aus lauter Konservativismus, und man weiß nicht mehr, wie man Leute in die Konzertsäle bekommen soll.

Beim Jugendkonzert mit dem HR-Sinfonieorchester hatte man den Eindruck, dass Sie als Dirigent nicht nur mit dem Orchester kommunizieren, sondern auch mit dem Publikum hinter Ihnen.

-Ich habe schon viele Kommentare über meinen Dirigierstil gehört, gute wie negative. Manche Leute finden, dass sie durch mich die Musik gut verstehen: Wie ich mich bewege, manchmal sogar herumspringe, das verkörpert für sie die Musik. Es gibt auch Kommentare in die Richtung, dass ich aus dem Dirigieren eine Show mache. Ich mache aber keine Show, weder für das Orchester noch fürs Publikum. Ich versuche, das Drama der Musik herauszuarbeiten, die theatralen Aspekte. Pulcinella ist auch ein Ballett, eine Komödie, mit einer Handlung wie in einer Opera buffa. Diese Ebene gehört zur Musik, auch wenn man keine kostümierten Darsteller auf der Bühne hat. Das kann man dem Orchester klarmachen, und man kann damit erreichen, dass die Musiker sich in die Charaktere einfühlen. Meine Bewegung dient auch dazu, den Musikern etwas zu erklären, wovon ich zutiefst überzeugt bin.

Arbeiten Sie lieber mit jungen Orchestern als mit reiferen Klangkörpern?

-Am liebsten tue ich beides. Ich habe mal über das London Symphony Orchestra gesagt, es sei das beste Jugendorchester der Welt. Sie sind hervorragend ausgebildet, aber sie strahlen auch ein unglaubliches Charisma aus, eine Kraft und Leidenschaft, wie man sie sonst eher bei jungen Musikern findet. Sie sind unglaublich wach. Man muss aber sagen, dass es inzwischen mehrere Orchester gibt, die diese Qualitäten haben.

Wichtig ist vermutlich, dass die Musiker nicht nur dem Dirigenten zugewandt sind, sondern auch aufeinander hören.

-Das ist sehr wichtig. Es ist ja nicht so, dass der Dirigent die Musiker dirigiert. Er ist einer von ihnen. Er ist einfach derjenige, nach dem du als Musiker schauen musst, wenn du nicht mehr weißt, wo du gerade bist.

Interview: Hans-Jürgen Linke / Autor

Kristjan Järvi wurde 1972 in Tallinn, Estland, in einer Musikerfamilie geboren, die 1979 nach New Jersey zog. Er studierte Klavier an der Manhattan School of Music und Dirigieren an der University of Michigan, gründete 1993 in New York das Absolute Ensemble, war Chefdirigent des Tonkünstler Orchesters Niederösterreich und ist Mitbegründer des Baltic Youth Philharmonic. Wegen seines kinetisch-kommunikativen Dirigierstils wurde er gelegentlich mit Leonard Bernstein verglichen. Im kommenden Jahr wird Kristjan Järvi Chefdirigent des MDR Sinfonieorchesters Leipzig.

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