Anna Engel (hr2) erinnert sich an die Aktionswoche in Frankfurt am Main
— Wenn ich an diese eine, besondere Woche – Freispiel 2008 – zurückdenke, dann sehe ich noch jetzt viele Bilder und ich höre noch Klänge, die ich so bisher nicht gehört habe.
Während dieser Zeit habe ich fast jede Station der Musiker verfolgen können: Ich habe in der Freitagsküche gegessen und gelauscht, in der Rotunde der Schirn Kunsthalle die Begegnung von Kunst und Musik genossen und im Naturmuseum Senckenberg die staunenden Kinder beobachtet.
Ich habe vor dem Maincafé im Regen unterm Schirm gestanden und das Echo bewundert, das vom anderen Mainufer zurückkam, die Akustik und der weite Blick vom Trianon Hochhaus haben mich beeindruckt. Und am Ende dann der Höhepunkt am Schwedlersee: das Quartett für das Ende der Zeit in voller Länge und alle Miniaturen temps afflue, temps s’arrête ... des jungen Komponisten Martin Schmalz. Aber angefangen hat ja alles ganz anders …
Hin und wieder höre ich gern klassische Musik – aber Neue Musik? Klar hatte ich von der 12-Ton-Musik, von Henze und anderen gehört, aber Olivier Messiaen, der Komponist und Vogelkundler, und seine Klangwelt waren mir vollkommen unbekannt. Bis zu dem Tag, an dem ich von der Idee zu Freispiel 2008 gehört hatte und beschloss, darüber eine Reportage für hr2-kultur (Mikado) zu machen.
Plötzlich war ich Teil einer Gruppe, die etwas Neues versucht, nämlich auch gegen viele Widerstände und Zweifel etwas auszuprobieren, das es so noch nicht oft gibt: Klassische Musik aus dem Konzertsaal herauszuholen und dahin zu bringen, wo die Menschen schon sind, und zwar solche, die vielleicht eher nicht in die Alte Oper gehen, sondern am Main sitzen oder in der Freitagsküche ihr Abendessen einnehmen.
Mir hat die Idee gefallen, dass vier Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie an alltägliche und für Klassik gänzlich ungewöhnliche Orte gehen, um dort Messiaen zu spielen, seine Musik in einer anderen Umgebung erklingen zu lassen und Menschen, die dort sind, dazu zu bringen, diese ‚neue’ Musik anzuhören.
So ganz leicht macht es Messiaen einem zunächst nicht. Seine Kompositionen verlangen dem Zuhörer ab, sich auf etwas Neues, Ungewohntes einzulassen. Doch je öfter ich die Musik hörte und je mehr ich über Messiaen und sein Werk erfuhr, desto mehr begann ich zu verstehen. Plötzlich hörte ich nicht nur die Natur und die Vogelstimmen, die der französische Komponist auf seinen vielen Reisen aufgenommen und in seinen Werken verarbeitet hatte. Ich bekam auch ein Gefühl für seine Welt, die so reich an ganz unterschiedlichen Faszinationen und Sinneseindrücken war. Romantische Dichtung, Märchenhaftes, Zahlenmystik und synästhetische Empfindungen, die ihm zu seinem Schaffen Inspiration gaben. Ich habe durch diese Woche mit den jungen Musikern gelernt, anders Musik zu hören, mich auf ein neues, mir zunächst fremdes Klangerlebnis einzulassen.
Besonders berührt hat mich die Aufführung in der Rotunde der Schirn, bei der für mich ein ganz besonderer, fast magischer Moment entstanden ist. Ein Moment, in dem die Zeit stillzustehen schien. Es war der 8. Satz Lobpreis der Unsterblichkeit Jesu (für Violine und Klavier) aus dem Quartett für das Ende der Zeit. Etwa 50 Menschen standen wie erstarrt, völlig regungslos in einem Kreis um die vier Musiker herum. Keine Bewegung, kein anderes Geräusch war zu hören. Und dann ist etwas geschehen, das ich so noch nie bei Musik erlebt habe: Ich konnte die Musik plötzlich nicht nur hören, sondern körperlich spüren. Die Stimmung, die Angst und die Verzweiflung, die im Kriegsgefangenenlager in Görlitz geherrscht haben müssen, als Messiaen sein Quartett dort als Insasse 1941 uraufgeführt hat, wurden auf uns Zuhörer übertragen, die Musik hat sie spürbar gemacht.
Danke an alle, die zu diesem Erlebnis beigetragen, die das möglich gemacht haben.
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Danksagung
Die Junge Deutsche Philharmonie und Zeller&Brucculeri
danken allen Partnern und Sponsoren von FREISPIEL 2008:
Aramark im Trianon / Atelierfrankfurt e.V. / Bembel – Agentur für Reklame / Brandmission – Damir Tomas / Druckerei Imbescheidt / Freitagsküche / Grünflächenamt der Stadt Frankfurt / Hotel Nizza / Hotel 25h by Levis / hr2-kultur / Jazzunique & Nudie Jeans / MBF Filmtechnik / Maincafé /
Naturmuseum Senckenberg / Radio X / Satis&Fy / Schirn Kunsthalle / Schwimmclub Schwedlersee / Sixt / Trianon /Transform Magazine
(Fotos: Jürgen Zeller)