FAP20 Banner Sylvain Marco Borggreve

Foto: Marco Borggreve

Stefan Fricke: Herr Cambreling, spielen Sie gelegentlich noch Posaune?

Sylvain Cambreling [lacht]: Oh, schon seit 45 Jahren nicht mehr.

Ich frage das deshalb, weil Sie ja vor Ihrer Dirigententätigkeit erst Posaunist waren, u. a. beim Orchestre Symphonique de Lyon, und weil Gérard Grisey die klanglichen Details seines Stückes Les espaces acoustiques aus dem Obertonspektrum eines tiefen Posaunen-E gewonnen hat. Wie gut kannten Sie Gérard Grisey?

Ich kannte ihn sehr gut. Er hat zur selben Zeit in Brüssel gewohnt wie ich, und wir haben uns sehr oft getroffen. Ich war an seiner Seite, als er verschiedene große Stücke geschrieben hat, wie L’icône paradoxale oder Quatre chants pour franchir le seuil

Haben Sie auch die Arbeit an diesem großen Zyklus der „akustischen Räume“ verfolgen können?

Das nicht. Les espaces acoustiques hat er 1985 fertiggestellt. Nach Brüssel kam er im darauffolgenden Jahr. Aber ich habe mit ihm auch über dieses Stück sehr viel gesprochen, das ich drei- oder viermal einstudiert habe. Ich kannte die Musik von Gérard Grisey bereits ganz gut aus den 1970er Jahren, als ich in Paris regelmäßig das Ensemble Intercontemporain dirigiert habe. Und in dieser Zeit arbeitete er an Les espaces, allerdings erzählte er mir damals nicht sehr viel davon; es war wirklich noch ein Experimentierstadium. 

Im September 1996 haben Sie zum Beispiel eine Aufführung von Les espaces acoustiques mit dem Frankfurter Museumsorchester bei dem Musica-Festival in Straßburg realisiert, die als Live-Aufnahme auch auf CD erschienen ist.

Ich habe auch eine Aufführung mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie dem Klangforum Wien geleitet. Aber davon gibt es keine CDs. Und ich habe verschiedene Stücke aus dem Zyklus oft dirigiert, zum Beispiel Partiels.

Partiels ist ja 1975 entstanden. Dieses dritte Stück von Les espaces acoustiques für 18 Musiker enthält einige Merkwürdigkeiten. So muss am Ende die Flötistin oder der Flötist das Instrument auseinanderbauen, ein Schlagzeuger deutet markant einen Beckenschlag an, der aber nicht kommt. Und plötzlich geht das Bühnenlicht aus.

Das sind natürlich Reste aus den 1970er Jahren, eine gesetzte Ironie von Gérard Grisey, die aber nur selten in seinem Werk zu finden ist. Das Ernste daran ist, dass man im Konzert immer auch andere Töne hört als die der Musiker. Ein Publikum macht immer ein Geräusch, das man hört, das man aber kaum bemerkt. Und so etwas wollte er einmal in sein Werk inkludieren, mit leicht ironischer Façon. Dann gibt es in Partiels noch verschiedene Konversationen zwischen den Musikern. Sie sagen etwa „Sorry, I don’t know“ und ähnliche Phrasen. Sie stehen alle in der Partitur, aber das Publikum hört sie nicht, sie werden nur leise gesprochen. Das ist wirklich extrem selbstironisch.

Doch das Publikum hört die Sätze nicht …

Nein, das Publikum soll nur merken, dass es im Ritual des Konzerts eine Störung gibt. Dafür steht auch der Beckenschlag, der als Riesenlaut angedeutet wird, der aber nicht kommt. Zunächst jedenfalls nicht. Mit diesem Schlag beginnt Modulations, das erste der drei Stücke für Orchester. Aber vorher gibt es eine Pause.

Eine sozusagen einkomponierte Pause; denn für die komplette Aufführung aller sechs Teile von Les espaces acoustiques schreibt Grisey vor, dass es nach dem dritten Stück eine Pause geben muss. 

Genau. Die Pause ist sowieso pragmatisch, weil nun nicht mehr Solo-Bratsche, ein kleines und dann ein großes Ensemble spielen, sondern die Teile 4 bis 6 für kleineres und dann größeres Orchester sind.

Sie erarbeiten nun Les espaces mit der Jungen Deutschen Philharmonie und dem Ensemble Modern so, dass die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Modern die Teil 1 bis 3 und die der Jungen Deutschen Philharmonie die Teil 4 bis 6 realisieren?

Die beiden Klangkörper werden sich mischen. Es ist wirklich ein Konzept der Zusammenarbeit, und genau das macht dieses Projekt für mich so spannend. Die erfahrenen Solisten und Solistinnen vom Ensemble Modern werden die Musikerinnen und Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie auf die Musik Griseys vorbereiten.

Wie genau ist die Partitur notiert? Haben Sie große interpretatorische Spielräume?

Alles ist bis ins letzte Detail genau notiert. Gérard Grisey ist einer der Komponisten, die in ihren Partituren sehr genaue Informationen bringen, zu den Spieltechniken der Instrumente und auch wie das Stück klingen soll. Es gibt kein aleatorisches Moment. Es ist alles präzise notiert: Rhythmus, Dynamik, Tempi.

Was ist für Sie hier die große Herausforderung als Dirigent?

Wenn man mit Musikern arbeitet, die diese spektrale Musik kennen, dann kommt alles relativ schnell. Für das Ensemble Modern ist das keine besondere Schwierigkeit. Aber mit einer großen Gruppe Intonationen in Viertel-, Sechstel-, Zwölfteltönen zu realisieren, ist schon immens schwieriger. Man muss viel proben, viel Geduld für Erklärungen haben und auch für Experimente, um die besonderen Intervallkonstellationen richtig zu erarbeiten.

Karlheinz Stockhausen hat in den 1970er Jahren die Chor-Oper Atmen gibt das Leben komponiert. Atmen, Einatmen wie Ausatmen, spielt für die Dramaturgie von Les espaces acoustiques ebenfalls eine große Rolle. Das Stück wirkt ja wirklich wie ein großer Organismus, der sich unaufhörlich nach vorne bewegt.

Man muss sagen, dass die jungen Musiker von heute diese Parameter schon kennen. Obwohl aber Les espaces acoustiques ein extremes und besonderes Stück ist, ist es dennoch ein altes Stück. Viele Aspekte darin waren damals total neu, und sie haben vielen anderen Komponisten sehr genutzt. Man muss auf jeden Fall mit diesem großen Bogen arbeiten, ihn herausarbeiten. Das ist sehr wichtig. Die Musik von Grisey besitzt eine besondere Poesie. Er selbst war auch sehr sensibel für die literarische Poesie. Immer finden sich sehr intellektuelle Aspekte in seiner Dramaturgie, aber diese hat er übertragen in die Poesie des Klanges. Bei ihm ist die Musik nicht mehr eine Konstellation von Noten, sie ist Klang. Die Spektralisten wie Grisey komponierten nicht mehr mit Tönen, mit Noten, sie komponierten mit Klang. 

Zu dieser Klangidee von Grisey gehört ja auch der Bezug zur Natur, etwa zum Pulsieren des Herzens, des Blutkreislaufs. Die Herzschläge sind ganz prägnant in diesem Stück.  

Das ist ein Aspekt, aber nur ein Aspekt, neben vielen, vielen anderen. Wichtig sind auch seine Reflexionen zur Zeit. Was ist die Zeit in der Musik? Er sagte, es gibt verschiedene Zeiten. Es gibt die Zeit der Menschen. Es gibt die Zeit der Insekten, es gibt die Zeit der Sterne usw. Das sind sehr ausdifferenzierte Reflexionen in seiner Musik. Interessant ist hier die Mischung verschiedener Parameter, nicht nur die Konzentration auf ein Merkmal, eine Idee, ein Parameter. 

Das ist im Schlusssatz Epilogue für Orchester und vier Solohörner sehr deutlich zu hören, wenn die Hörner in ihren Eskapaden über alles andere unbeirrbar hinwegreiten. Der letzte Schlag des Zyklus aber kommt von einer Pauke.

Das ist ein Finalpunkt: „Schluss jetzt“, „zu Ende“. Auch das ist Gérard Grisey. 

Sind die „akustischen Räume“ eines Ihrer Lieblingsstücke von Grisey?

Ich schätze Quatre chants pour franchir le seuil mehr, aber Les espaces ist sehr essenziell. So gehört Partiels zu den wichtigsten Stücken, um zu verstehen, was die spektrale Schule sagen wollte und was sie ist. Auch um die Musikgeschichte am Ende des 20. Jahrhundert nach dem Poststrukturalismus zu verstehen. Der Spektralismus bildete plötzlich eine ganz neue mögliche Richtung, Musik zu hören – Musik nicht nur zu spielen, sondern auch zu fragen, wie man Musik hören kann. Jedes Stück des Zyklus Les espaces acoustiques war ein neues Experiment, war eine neue Studie zu einer weiteren Freiheit, die Grisey danach komponiert hat.

Die Dramaturgie von Les espaces acoustiques, in der sich der musikalische Raum vom Anfangssolo über Ensemble bis hin zum großen Orchester plus vier Solisten als Gruppe zunehmend ausdehnt, ist einzigartig. 

Das gab es vor Griseys Experiment noch nicht. Sicher haben viele andere Komponisten etwas in dieser Richtung gemacht, haben etwa die Raummusik entwickelt, in der die Musiker im ganzen Saal verteilt sind. Als Gérard diese Komposition konzipiert hat, wusste er nicht ganz genau, wie sie sein wird. Aber dann analysierte er das E der Posaune oder eine leere Saite des Kontrabasses, und er wollte weitergehen. Auch die Entwicklung vom Solo bis zum großen Orchester hat er allmählich konzipiert. Das stand am Anfang nicht ganz fest. Aber es ist so geworden, und danach haben verschiedene Komponisten das in ihrer Art genutzt, und die Spatialisation von Musik ist mehr und mehr in die Neue Musik eingegangen.

Diese Verräumlichung der Musik hat Grisey sozusagen den Texturen von Les espaces eingeschrieben.

Ja. Gérard Grisey kannte sich sehr gut aus in deutscher Philosophie und in Akustik, die er intensiv studiert hat. Hinzu kommt seine Fantasie, er war voll von Fantasie, er war ein Poet. Diese drei Parameter machen sein Werk zu etwas ganz Besonderem.

Les espaces ist ja wirklich ein Stück zum Hören, ein Stück, um sich in diesen Fluss der Klänge hineinzubegeben, sich darin treiben zu lasen.

Es gibt wirklich Momente, die haben einen direkten Einfluss auf den Körper, das ist auch etwas Besonderes. Sie haben die Herzschläge schon erwähnt. Wenn er diese einsetzt und dann in das Pulsieren Störungen komponiert, beeinflusst das sofort die Zuhörer. Diese direkte Ableitung von der Funktion eines menschlichen Körpers funktioniert noch heute. Jedes Mal, wenn man Griseys Musik aufführt, höre ich, wie die Leute über Magie sprechen, etwas Magisches in ihr empfinden. Alles darin ist sehr intellektuell, sehr wissenschaftlich, und dennoch oder gerade deswegen schafft seine Musik eine besondere Atmosphäre. Man muss nicht unbedingt die Neue Musik kennen, um all dies zu spüren. Jeder Zuhörer, der mit einem Werk von Grisey konfrontiert ist, kann etwas für sich persönlich daraus mitnehmen, weil sein individueller Körper immer direkt auf verschiedene Aspekte dieser Musik reagiert. Man spürt den Genuss besonders, wenn man diese Musik live hört. Über CD erhält man nur 50 % von diesem Erlebnis. Griseys Les espaces acoustiques ist wirklich Musik, die man live in einem Konzertsaal mit anderen Leuten hören muss und nicht allein. Das hat etwas von einem Ritual, und das war auch eine Idee von Grisey, im Konzertsaal ein neues Ritual zu erleben. Ich habe die Erfahrung gemacht, vor allem wenn man den Zyklus #Les espaces# komplett spielt, dass dann etwas ganz Besonderes geschieht. Aber ich kann nicht genau erklären, was es ist. 

Gérard Grisey ist im November 1998 an einem Hirnschlag gestorben – er war erst 52 Jahre alt.

Ich war extrem schockiert, als Gérard plötzlich von uns gegangen ist. Er hatte noch nicht alles gesagt. Seine letzten Werke finde ich wunderbar. Er bleibt einer der wichtigsten Komponisten am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Musiker lieben es, seine Musik zu spielen. Und er ist noch da, er existiert als Komponist, als Künstler und als Mensch. Ich engagiere mich sehr gerne für seine Musik. Gérards Werke waren wirklich nötig für die Musikgeschichte. 

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Stefan Fricke
Musikjournalist