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Die Pandemie hat die Planung der Herbsttournee 2021 gehörig durcheinandergewirbelt. Von vier Stücken, die im vergangenen Taktgeber angekündigt wurden, ist gerade einmal eines geblieben – Mozarts Klavierkonzert Nr. 22. Ansonsten ist (fast) alles anders: Für Constantinos Carydis sprang kurzfristig André de Ridder als Dirigent ein – und im Eiltempo hat er gemeinsam mit dem Programmausschuss der Jungen Deutschen Philharmonie auch die Auswahl der Werke überarbeitet. Nun passen sie sowohl zum Hygienekonzept als auch zur gemeinsamen Vision. 
Die Tournee mit der JDPh wird in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana starten. Ljubljana ist eine hippe Universitätsstadt, in der einem aber doch permanent die Vergangenheit entgegenweht: Römische Ausgrabungen, prunkvolle Jugendstil-Fassaden, sowjetische Wohnblocks. Passend dazu wirft das Orchester auch im Programm Zeiten und Stile durcheinander – Mozarts Klavierkonzert steht neben von YouTube inspirierten Collagen, eine Schumann-Sinfonie trifft auf Musik einer Pariser Modenschau. 
Als André de Ridder zum Interview am Bildschirm erscheint, steckt er gerade im Quarantänehotel in Dublin fest. Zwischen Marmeladenbrot und Kaffeetasse sitzt er vor dem Laptop und spricht enthusiastisch über das Programm der Herbsttournee.

Thilo Braun: Mit Three Hundred and Twenty steht ein Werk von Bryce Dessner auf dem Programm. Dessner kennen viele vermutlich als Leadgitarristen der Indie-Rockband The National. In einem klassischen Konzert erwartet man so einen Komponisten eher weniger...

André de Ridder: Bryce Dessner kommt tatsächlich von der klassischen Neuen Musik, er hat im Ensemble von Steve Reich gespielt und am Pariser Konservatorium klassische Gitarre studiert – er war sozusagen „The American in Paris“. In Frankfurt war er gerade Composer in Residence beim hr-Sinfonieorchester, dort konnte man seine Musik also auch im Konzertsaal erleben. Ich persönlich kenne ihn schon lange und arbeite sehr gerne mit ihm zusammen.

Three Hundred and Twenty ist ursprünglich nicht für den Konzertsaal entstanden, sondern war ein Auftragswerk für eine Pariser Modenschau von Louis Vuitton. Was macht es aus deiner Sicht so spannend, dass es ins Konzertprogramm musste?

Grundsätzlich finde ich es schon sagenhaft, dass dort nicht ein existierendes Stück als Backgroundmusik zur Modenschau genommen wurde, sondern dass tatsächlich speziell für diese Gelegenheit ein Werk in Auftrag gegeben wurde. Ich war damals dafür zuständig, mit einem kleinen Orchester im Vorfeld eine Playback-Version aufzunehmen. Darüber hat dann ein Chor live gesungen, die Sängerinnen und Sänger standen hinten auf der Tribüne und im Vordergrund liefen die Models über den Catwalk. 

Bei YouTube kann man sich das Spektakel ansehen – der Chor trägt Kostüme aus ungefähr drei Jahrhunderten: Barocke Perücken, Halskrausen der Renaissance, klassizistische Gewänder. Ein faszinierender Kontrast zur futuristischen Kollektion im Vordergrund! 

Was mir daran gefällt: Die alten Kostüme waren ja alle irgendwann mal Avantgarde. Und dieses Nebeneinander von alt und neu spiegelt sich in der Musik. Bryce Dessner hat seinem Werk ein Orgelstück aus dem frühen 18. Jahrhundert zugrunde gelegt. Am Anfang bildet ein Orgelchoral die Basis, wie ein Loop, und daraus entwickelt es sich weiter. Außerdem kommt noch der Einfluss des französischen Elektronik-Musikers Woodkid dazu, der zugleich Musikberater des Modeschöpfers Nicolas Ghesquière ist. Diese Mehrdimensionalität passte zur Kollektion von Louis Vuitton, funktioniert aber auch gut in der reinen Instrumentalfassung, die wir im Konzert spielen werden.

Die Modewelt wird manchmal als oberflächlich und rein kommerziell kritisiert. Ähnlichen Vorwürfen muss sich auch die sogenannte U-Musik stellen, der im klassischen Konzertbetrieb von manchen Leuten Verflachung vorgeworfen wird. Kannst du solche Ängste nachvollziehen – oder sind die Schubladen ein Problem? 

Ich finde Schubladendenken immer problematisch, denn Verflachung kann es in allen Kunstformen geben, egal ob in Pop, Klassik oder Neuer Musik. Mir gefällt der englische Begriff der Contemporary Music ganz gut, denn damit ist jede Art der zeitgenössischen Musik gemeint. Das kann Jazz ebenso sein wie Hip-Hop, avantgardistische Elektronik oder neue Orchestermusik. Diese Breite vermisse ich in Deutschland manchmal, auch wenn Konzerthäuser wie die Hamburger Elbphilharmonie zeigen, wie es anders gehen kann. Gerade im Grenzbereich zwischen den Genres entstehen oft die spannendsten Projekte.

Mit 8-Bit Noir spielt ihr in Ljubljana, Aschaffenburg und Friedrichshafen auch ein zeitgenössisches Werk der Komponistin Nicole Lizée. Der Titel erinnert mich an Gameboy-Musik aus den 90ern – ist das auch so ein Grenzbereich? 

Absolut. Nicole Lizée arbeitet als Komponistin mit elektronischen Gadgets, die sie zweckentfremdet. Ihr Vater war Ingenieur und sammelte in seiner Werkstatt alte Elektrogeräte. Die Klänge solcher oft halb kaputten, aber doch noch dröhnenden und summenden Gegenstände haben sie bereits damals fasziniert. Solche Fundstücke sammelt Lizée heute im Digitalen, etwa auf YouTube. Sie nimmt trashige Videos als Basis und macht daraus Musik, indem sie das Original elektronisch verfremdet oder loopt. Aus solchem Material hat sie in 8-Bit Noir dann motivisch ein Orchesterstück entwickelt, in dem diese aufgenommenen Sounds mit den Live-Instrumenten interagieren.

In einem Interview sollte Nicole Lizée das Stück mal im Stil einer Netflix-Serie beschreiben. Sie antwortete: „Ein bösartiges Wesen mit Lo-Fi-Tendenzen erscheint ohne Vorwarnung in den Häusern der Menschen – die Verwirrung weicht dem Terror und dem Chaos.“ Klingt gefährlich...

Es ist vor allem ziemlich lustig und absurd. Die Komplexität des Konzepts ist sehr hoch. Die Geschichte geht ungefähr so, dass die alte Technik plötzlich auftaucht und die Musik „auffrisst“. Das ist ziemlich dadaistisch. Übrigens beschränkt sich das Theatralische nicht nur auf einen Film, der im Hintergrund zu sehen ist, sondern auch das Orchester wird ungewöhnliche Dinge tun. Ich will nicht zu viel verraten, aber Knallbonbons werden dabei ebenfalls eine Rolle spielen... 

Neben solchen ausgefallenen Werken gibt es mit Schumanns vierter Sinfonie und einem Klavierkonzert von Mozart auch Klassisches im Programm. Als Solist ist Kit Armstrong dabei, ein junger Pianist, der nicht nur für sein virtuoses Spiel, sondern auch für sein Interesse an Philosophie und Naturwissenschaften bekannt ist. Hat dieses über den Tellerrand gucken bei der Auswahl des Solisten eine Rolle gespielt? 

Kit Armstrong passt damit absolut zur Jungen Deutschen Philharmonie. Es geht dem Orchester ja nicht nur darum, über den eigenen Tellerrand zu schauen, sondern es steht selbst auch für eine zukünftige Generation professioneller Musikerinnen und Musiker. Gerade das vergangene Jahr hat gezeigt, wie immens wichtig es dabei ist, sich nicht nur über die „hehre Kunst“ zu unterhalten. Man muss sich auch Fragen stellen wie: „Warum Musik?“ oder „Warum Neue Musik?“. Warum sind Konzerte und Orchester denn wirklich notwendig für eine Gesellschaft? Und dazu muss man sich manchmal auch in gesellschaftliche Debatten einmischen und kann nicht nur sagen: „Wir wollen spielen, also öffnet die Häuser!“

Die Junge Deutsche Philharmonie nennt sich ganz selbstbewusst ein „Zukunftsorchester“. Was ist denn in Zukunft wichtiger für Orchestermusiker*innen: jung und wild sein – oder gut ausgebildet und künstlerisch anspruchsvoll?

Das „junge Wilde“ interessiert mich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Orchester der Zukunft zu sein, das beschreibt zunächst einmal die Wirklichkeit: In der Jungen Deutschen Philharmonie versammelt sich die Elite der in Deutschland studierenden Musiker*innen. Und damit bilden sie per Definition die Zukunft der Orchester ab. Das ist eine tolle Sache, aber es ist auch eine Riesenverantwortung. Deswegen ist es wichtig, dass man sich nicht nur über schöne klassische Programme Gedanken macht oder spielt, was Spaß macht, sondern auch definiert, wofür man stehen möchte. Professionalität ist dabei wichtig, was aber nicht heißt, dass man die Profession nicht modernisieren darf. Nur dabei muss eben alles immer auf dem höchstmöglichen Niveau passieren. Das ist auch eine Frage der Ausbildung: Ist die noch zeitgemäß? Was bedeutet es, ein*e moderne*r Orchestermusiker*in zu sein? Man kann sich heute nicht mehr darauf verlassen, eine Festanstellung zu finden. Es gibt schon Länder wie England, da bestehen selbst große Orchester allein aus Freelancer*innen. Da herrschen andere Bedingungen, Musiker*innen müssen auch in der Lage sein, Filmsessions zu spielen, mit Klick zu spielen, müssen sich in verschiedene Stile hineinversetzen können. Deswegen ist die Junge Deutsche Philharmonie auch so spannend, weil sie als Ensemble nicht nur in die Musikszene und Orchester wirken kann, sondern auch anders herum in die Ausbildung an den Hochschulen. 

Euer Konzert in Frankfurt findet im Rahmen des Fratopia-Festivals statt. Dort sollen gesellschaftliche Utopien für die Stadt Frankfurt entstehen, ausgelöst durch Musik. Was für eine Utopie bringt ihr mit?

Die Utopie ist erstmal die des Überlebens. Unser Anliegen ist es, mit lebendiger Orchestermusik und klassischer Musik weiterhin die Menschen zu erreichen; sie gerade nach diesem letzten Jahr spüren zu lassen, wie vital und notwendig das ist. Ich wünsche mir, auch ein neues Publikum zu erreichen. Dieses Konzert ist da vielleicht schon ein Weg hin zur Einlösung dieser Utopie, weil es Klassiker in einem neuen Licht erscheinen lässt, interpretiert von jungen Musiker*innen, im Wechsel mit neuen Kompositionen. 

In Frankfurt wird das Orchester im Parkett spielen statt auf der Bühne. Was ist der Gedanke dahinter?

Das war die Idee von Dr. Markus Fein, dem Intendanten der Alten Oper. Ich finde sie sehr gut, weil das den Zuhörer*innen die Möglichkeit gibt, dem Orchester näherzukommen – und auch wir als Orchester kommen dem Publikum näher. Wir sind alle auf einem Level und können damit sozusagen mit demokratischeren Ohren hören. 

Für dich ist diese Tournee die erste Begegnung mit dem Orchester. Worauf freust du dich am meisten?

Zunächst einmal darauf, die Musiker*innen, die ich bisher nur in Videokonferenzen kennengelernt habe, persönlich zu treffen und im gleichen Raum mit ihnen Musik zu machen. Außerdem ist das Besondere an der Jungen Deutschen Philharmonie, dass sie sich als Nachwuchsorchester immer wieder neu finden muss, weil die Studierenden natürlich irgendwann ins Berufsleben eintreten. Und diese Möglichkeit, gemeinsam einen Klangkörper zu formen und einen Spirit zu entfachen – darauf freue ich mich sehr.

*** 
Thilo Braun / Musikjournalist

Fotocredit: Marco Borggreve

Weitere Infos und alle Termine der Herbsttournee FREIGEIST: https://www.jdph.de/de/veranstaltungen/orchester-konzerte/963-freigeist 

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